Nach einem Seitenblick auf Heideggers Konzept der Eigentlichkeit/Uneigentlichkeit und der Lektüre von Jean-Paul Sartres phänomenologischer Beschreibung von „Pierre“, den Kellner, der einen Kellner „spielt“, vertiefen wir heute die Analyse des menschlichen Schauspielertums durch die philosophische Anthropologie Hellmuth Plessners (1892-1985). Das gebrochene, „abständige“ Selbstverhältnis des Menschen, so Plessner in „Zur Anthropologie des Schauspielers“ (1948), offenbart sich gerade in seiner Fähigkeit zur Nachahmung, zur Parodie und zur Schauspielerei. Was geschieht, wenn der Schauspieler seinen Leib zum Objekt bzw. Material einer Darstellung macht? Und trägt nicht die soziale Nötigung, „etwas zu sein“, zur durchgängigen Theatralisierung oder Dramatisierung der Existenz bei? Verfehlt also Heideggers Vorstellung von der uneigentlichen Verfallenheit an das „man“ – und deren Denunzierung als substanzloses, unernsthaftes und todesvergessenes Dasein – gerade die grundlegenden Aspekte der menschlichen Existenz?

Und noch etwas, ich hätts beinahe vergessen: das Thema der Mimesis hat uns beschäftigt. Wie lernen wir Leben? Im wesentlichen und zunächst einmal durch Mimesis, durch spielerische Nachahmung dessen, was wir vorfinden. Für Mimesis können wir auch den moderneren Begriff der Simulation einsetzen. Die Formen der Simulation reichen vom freien, sozialen Kinderspiel („Vater-Mutter-Kind“, oder vielleicht auch schon: „Papa, Vati, Kind“…) bis zur komplexen festlichen Aufführung des kosmischen Schauspiels von Werden und Vergehen, Endlichkeit und Ewigkeit im kultischen Spiel.

Eine denkwürdige Besonderheit besteht darin, dass der Zwang zur illusio die Spielenden verführt und durch die eigentümliche Macht, die das Spiel auf die Akteure und Zuschauer ausübt, dazu hinreißt, der eigenen – stets verleugneten und abgestrittenen – illusio zu verfallen. Dies könnte der Keimpunkt der archaischen Religionen sein: Von der mimetischen Darstellung der kosmischen Naturerfahrung und ihrer Simulation im Maskentanz, im Opferfestritual oder im Mysterienspiel geht ein heiliger Zauber aus, der in vielen Kulturen zu der Vorstellung führt, das mimetische Darstellen des Dramas des Lebens sei notwendig, um seine Wiederkehr und Beständigkeit zu sichern, mit anderen Worten: der Clan, der Stamm oder die Gemeinschaft sei verantwortlich für das Bestehen des Kosmos, den Lauf der Sonne, den Regen, die Fruchtbarkeit der Felder, das Wiedererscheinen des Wildes usw., das heißt, das Ritual garantiert seine eigene Verwirklichung. Die Menschenopfer der Atzteken dienten dazu, die Götter, insbesondere die Sonne zu nähren und so den Lauf der Jahreszeiten, die Fruchtbarkeit, das Licht und den Regen im Gang zu halten.

Magie ist im Kern darstellende Mimesis mit dem Ziel ihrer Verwirklichung. Das Opferitual organisiert das gedeihliche Zusammenspiel von Menschen, Ahnen, Göttern bzw. kosmischen Naturkräften. Der oft, gerade bei Huizinga, beschworene „heilige Ernst“ im Spiel hat eine über psychosoziale Faktoren hinausgehende Grundlage: Es geht um nicht weniger als Leben und Tod, das vitale Geschick der Gemeinschaft, ihre Blüte oder ihren Untergang. Mehr als nur gelegentlich führt das Vergessen der illusio als solcher dabei zu einer hypertrophen Proliferation des Kultes, der, vor allem wenn er mit Veranstaltungen verbunden ist, die zum Formenkreis des Potlatch gehören, fast das gesamte ökonomisch-soziale und kulturelle Leben der Gemeinschaft unter seine Regel bringt und absorbiert. Ein solcher ‚wuchernder“ Hypertrophismus des Kultes lässt sich häufig beobachten – vom Totenkult der alten Ägypter bis zu den endlosen, ruinösen Beerdigungsfeiern bei manchen Stämmen in Papua-Neuguinea oder Zentralafrika. – Erhellend hierzu die Ausführungen Georges Batailles über Potlatch, unproduktive Verausgabung und Souveränität, die ich letzte Woche im Vortrag dargestellt habe.

Kann es sein…

24. März 2014

Erörterte Grundgedanken: Kann es sein, dass man die Perspektive umkehren muss? Dass also das Spiel nicht, wie praktisch immer in der Tradition, vom Ernst (der Arbeit, der Alltäglichkeit, der Normalität etc.) her zu bestimmen ist, sondern, vielleicht auf paradoxe und ‚unmögliche‘ Weise der Gedanke gewagt werden muss, dass Ernst, Eigentlichkeit und Authentizität Konstrukte darstellen, die von den spielerischen Formen der Realität her entworfen worden sind – aus der platonisch-christlichen Sehnsucht nach einer unvergänglichen, ewige Zuverlässigkeit versprechenden ‚Wahrheit‘? Wäre der „Ernst“ dann eine Art polemische Fiktion, um gegen die spielerische Realität zu rebellieren? Wir werden den Gedanken verfolgen.

Entlang der Überlegungen von Johan Huizinga beschäftigt uns die doppelte oder zweifache Ambiguität des Spiels. Zum einen besteht die Ambiguität des Spiels, des Tuns-als-ob darin, dass dieses Als-ob nur funktioniert, wenn und insofern es (innerhalb und während des Spiels) geleugnet wird. Ein Seitenblick auf Pierre Bourdieus analytischen Begriff der illusio erhellte diesen Zusammenhang als Wesensmerkmal aller sozialen Spiele, die mit der Konstitution von Berufsgruppen, Habitus, Fächern, Disziplinen usw. verbunden sind. Ohne illusio – das heißt die – u. a. wider besseres Wissen geteilte Überzeugung vom Ernst, von der Seriösität und der Bedeutung des eigenen Tuns – kann das soziale Spiel keine Stabilität gewinnen. (Eine entscheidende Schwäche des Brechtschen Regiekonzepts der Verfremdung, die verlangt, die illusio beständig zu durchbrechen und aufzuheben.) Das Spiel bleibt nur Spiel, wenn und sofern es ernstgenommen wird.

Seine andere, umfassendere Ambiguität besteht, wie wir anhand ethnologischer, kulturanthropologischer und religionsphänomenologischer Befunde festgestellt haben, darin, dass das Spiel – der erklärte „Nicht-Ernst“ – eine für das Spiel konstitutive Tendenz hat, das Spiel zu überschreiten, auf schöpferische Weise eine tatsächliche Realität zu kreiieren, inmittten des Chaos der Welt eine mehr oder minder tragfähige Insel der Ordnung, der ausbalancierten Harmonie zu implementieren, die durch rituelle Bekräftigung stabilisiert wird. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, was man die Iterabilität des Spiels nennen kann: Es muss wiederholbar sein, es wird wiederholt und existiert in dieser Wiederholung. Selbtverständlich gilt dies in erster Linie für „soziale Spiele“ aller Art.

Ohne dass wir dies vorgehabt hätten, spielte in diesem Zusamenhang in unseren Diskussionen das Sakrament eine besondere Rolle, insbesondere die in der traditionellen katholischen Lehre von der Transsubtanziation vorgestellte Realpräsenz des Leibes Jesu Christi in der Eucharistie. Um dieses Phänomen – wie übrigens auch die ritualisierten ‚magischen‘ Praktiken sog. primitiver oder archaischer Kulturen und ihren wirklichkeitssetzenden ‚Erfolg‘! – zu verstehen, reicht die platte, überkommene Gegenüberstellung von ‚objektiver Realität‘ und ‚Einbildung‘ nicht aus: Das Spiel neigt dazu, die Grenzen des ‚bloßen‘ Als-ob immer zu überschreiten – es wirkt sich auf die Realität der Spielenden – und damit auf ihre Lebenswelt – aus.

Vielleicht ist es hilfreich, sich der Differenz von Transitivität und Intransitivität des Spiels zu erinnern. Wir befinden uns intransitiv im Modus des Spielens; zugleich sind wir damit transitiv beschäftigt, etwas zu spielen. Auf den ersten Blick ist dieses etwas identisch mit dem Set aus Regeln, das wir im Akt des Spielens performativ aufrufen und zur Wirklichkeit des Ausdrucks bringen. Diese ‚Aufführung‘ des Regelsystems, das wir im Spiel exekutieren, weist aber über sich hinaus: Auch eine spielerische Ordnung ist eine Ordnung und schafft Strukturen, die von der Realität der Spieler absorbiert werden.

Das Spiel als Darstellung, Kampf und Kult (Opfer, Ritual) steht weiter auf der Tagesordnung…

Nach den einigermaßen komplizierten Gedankengängen über die metakommunikative Logik des Spielens gönnen wir uns eine Pause für einen historischen Rückblick. Die Philosophie beginnt erst im Zuge der rationalistischen Aufklärung, das Spiel zu problematisieren. Dabei steht es, ausgehend vom „protestantischen Geistes des Kapitalismus“ (Max Weber) sogleich unter Verdacht: Wer Lebenszeit vertändelt, setzt sein Seelenheil aufs Spiel, ver-spielt den göttlichen Auftrag, durch Arbeit, innerweltliche Askese und Wohlstandsmehrung sich der Erlösung würdig zu machen.

Für die meisten Autoren der Aufklärung ist das Spiel – wenigstens beim Kinde – nur dadurch gerechtfertigt, dass es gerade kein Spiel ist, sondern nützliche Übung, Training, notwendig zur Erprobung und Entfaltung der natürlichen körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Die Kinder dürfen also spielen – solange und sofern es sie auf die Arbeit und den Ernst des Lebens vorbereitet.

Es ist vor allem Friedrich Schiller, der sich mit seiner zwar etwas verstiegenen und pathetisch-überhöhten, aber dennoch bahnbrechenden und einflußreichen Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ dem rationalistischen Utilitarismus der Aufklärung entgegenstellt: Für ihn ist das Spiel – im weitesten Sinne – die genuine ästhetische Produktivität des Menschen und damit dem wahrhaft Humanen wesentlich zu eigen. Schilklers Aufsatz wird lange nachwirken ­ bis hin zu Nietzsche und der Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts.

Wir lesen, vorbereitet durch Hinweise von Max Weber, Texte von John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Jean Paul, Friedrich Schiller und Julius Schaller.

Das Spiel geht weiter…

10. Februar 2014

Wir haben uns zu Beginn dem Phänomenfeld „Spiel“ auf eine abstrakte und sehr elementare Weise genähert. Aus heuristischen Zwecken haben wir uns zunächst auf soziale Spiele fokussiert, also Spiele mit mehr als einem Spieler. Anhand der Spiele höherer Tiere stellen wir fest, dass die eigentümliche Paradoxie und Ambiguität – in der Expertensprache: die „Konjunktion exklusiver Disjunktionen“, also das Zusammenfallen aneinander ausschließender, unaufhebbar widersprüchlicher Prämissen – des Spiels mit der Notwendigkeit zusammenhängt, symbolisch zu kommunizieren. Wer über metasprachliche, verbale Kommunikationsmöglichkeiten nicht verfügt, gerät schon bei der Einladung zum Spiel in Schwierigkeiten. Die misslungene „Aufforderung zum Tanz“, bei der sich Alfred Brehms Waschbär bedauerlicherweise beim unfreundlichen Dachs eine blutige Nase holt, illustriert das. Wie Gregory Bateson sagt: Spielende Wesen müssen zumindestens elementar über die Fähigkeit verfügen, instinktgebundene oder rein physiologische Signale von Symbolisierungen unterscheiden können. Semiologisch ausgedrückt: Sie müssen verstehen, dass die Karte nicht das Territorium ist, oder, alltagssprachlich, dass es zwischem dem Als-ob und dem real thing einen Unterschied gibt, der einen Unterschied ausmacht.

Wir haben die Hypothese aufgestellt, dass – zumindest alle sozialen – Spiele das Charakteristikum aufweisen, Regeln zu folgen, Regeln die jedem Spiel auf andere Weise zu eigen sind. Eine leichte Irritation hat die Behauptung ausgelöst, das allen Spielen eine Regel gemeinsam ist – die Regel nämlich: „Dies ist ein Spiel“. Man könnte das die ontologische Grundregel des Spiels nennen – nämlich dass es sich, um Spiel zu sein, zurückziehen muss hinter eine mehr oder minder strikt gezogene Grenzlinie, die das Als-ob von der Wirklichkeit, dem tödlichen Kampf, der Arbeit, dem Ernst usw. trennt.

Batesons „Metalog“ mit seiner Tochter wirft weiterführende Fragen auf: Wer bestimmt die Regeln? Wer darf sie verändern? Ist „Schummeln“ eine Grenzverletzung? Wie spielt man Spiele, bei denen es wesentlich ist, herauszufinden, welche Regeln überhaupt gelten? Durch was werden Spiele destruiert und gesprengt? Das Beispiel Valmont.

Wir lernen etwas über „fließende“ Regelbestimmung: das sonderbare interaktive framing und reframing von Aktivitäten, Tätigkeiten oder Sprechakten. Tom Sawyer wird uns dabei noch einmal nützlich sein. Der Humanethologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt gestattet einen Ausblick auf die Frage, warum wir spielen – und warum dies für Kinder unabdingbar ist.

Bereits gestreift wurde die Frage, warum wir an Täuschungen unsere Freude haben – Täuschungen, von denen wir wissen, dass sie welche sind. Wir wollen „gute“ Illusionisten, Zauberer, Schauspieler, die überzeugend täuschen, nur: Wen täuschen sie denn? Uns jedenfalls nicht. Wir wissen ja, was läuft, dass es es sich um ein Spiel handelt. Wer soll aber dann getäuscht werden? Man erinnere sich an Robert Pfallers Erörterung über „Einbildungen ohne Subjekt“….

Heute im Seminar…

3. Februar 2014

… geht es um Alfred Brehms Waschbär und dessen einseitige Freundschaft zu einem Dachs (einigermaßen missglückte Aufforderung zum Spiel); um Konrad Lorenz und seine Graugans Martina (die ein magisches Ritual entwickelt), ferner um Gregory Bateson, seine kluge Tochter und die Frage nach der prekären kommunikationslogischen Struktur des Spiels. Wer macht die Spielregeln? Und kann ein Spiel mit mindestens zwei Mitspielern gelingen, wenn einer davon ständig die Regeln ändert? Wir lernen die erste Grundregel des Spiels kennen („Dies ist ein Spiel!“), die man besser nicht während des Spiels brechen sollte (der Vicômte de Valmont in Choderlos de Laclos‘ Roman „Gefährliche Liebschaften“ bricht die Regel des Spiels der Verführung, indem er sich tatsächlich verliebt – Gram, Verzweiflung, tödliches Ende! Natürlich steht hinter allem das Problem der Metakommunikation. Und wenn am Ende des Denkens noch Zeit übrig ist, sprechen wir über framing und re-framing und wie Tom Sawyer es schafft, den Farm-Zaun gestrichen zu bekommen. – Was war noch mal Reaktanz?

Literatur zur Philosophie des Spiels (Auswahl)

Hans Scheuerl (Hrsg.), „Das Spiel · Theorien des Spiels“, Weinheim/Basel 1991ff, Beltz Verlag

Johan Huizinga, „Homo ludens · Vom Ursprung der Kultur im Spiel“, Hamburg 1956ff, Rowohlt enzyklopädie

Roger Caillois, „Die Spiele und die Menschen · Maske und Rausch“, Paris 1958, dtsch. München/Wien, Langenmüller (antiqu.)

Jean Piaget, „Nachahmung, Spiel und Traum“, Ges. Werke Bd. V, Stuttgart 1975ff, Klett-Cotta

Erik H. Erikson, „Kinderspiel und politische Phantasie · Stufen der Ritualisierung der Realität“, Frankfurt/M. 1978f, Suhrkamp, Wissenschaftl. Sonderausgabe

Brian Sutton-Smith, „The ambiguity of play“, Cambridge/Mass. – London, UK, 1997, First Havard University Press paperback,

Brian Sutton-Smith,, „Die Dialektik des Spiels · Eine Theorie des Spielens, des Spiels und des Sports“‚ Schorndorf 1978, Karl Hofmann Verlag

Erving Goffmann, „Wir spielen alle Theater · Die Selbstdarstellung im Alltag“, München 2003ff, Piper Verlag

Eric Berne, „Spiele der Erwachsenen · Psychologie der menschlichen Beziehungen“, Hamburg 1979ff, rororo

Gunter Gebauer, Christoph Wulf, „Spiel, Ritual, Geste · Mimetisches Handeln in der sozialen Welt“, Hamburg 1998, rororo enzyklopädie

Friedrich Georg Jünger, „Die Spiele“, München 1959, List Verlag (antiqu.)

George Herbert Mead, „Geist, Identität und Gesellschaft“, darin bes.: „Spiel, Wettkampf und der (das) verallgemeinerte Andere“, Frankfurt/M. 1978ff, Suhrkamp stw 28

Gregory Bateson, „Metalog: Über Spiele und Ernst“ u. „Eine Theorie des Spiels und der Phantasie„, beide in: „Ökologie des Geistes · Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven“, Frankfurt/M. 1985ff, stw suhrkamp taschenbuch wissenschaft Bd. 571,

Helmuth Plessner, „Zur Anthropologie des Schauspielers“ (1948), in: Gesammelte Schriften VII, „Ausdruck und menschliche Natur“, Frankfurt/M. 1982f, Suhrkamp

ders., „Der Mensch im Spiel“ (1967, in: Gesammelte Schriften VIII, „Conditio Humana“, Frankfurt/M. 1983, Suhrkamp

Irenäus Eibl-Eibesfeldt, „Die Biologie menschlichen Verhaltens · Grundriß der Humanethologie“, München 1984, 1995, Piper

Klaus Theweleit, „Tor zur Welt · Fußball als Realitätsmodell“, Köln 2004, KiWi

Additional Tracks von: John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Friedrich Schiller,  Jean Paul, Julius Schaller, Friedrich Nietzsche, Alain, Aloys Fischer, Georges Bataille, Konrad Lorenz, Robert Pfaller u. a.

Liebe Freunde,

am nächsten Montag, den 27. 9. 2014 beginnt um 19.30 Uhr in der VHS Duisburg das neue Philosophie-Seminar. Materialien und Nachrichten dazu demnächst hier…

Reinhard Haneld

 

Der Platz des Königs – Foucault und Velásquez


 


 

Es gibt Werke der bildenden Kunst, die stellen für die moderne Philosophie eine echte Herausforderung dar. Dabei muss es sich nicht um moderne Malerei handeln. Nicht erst seit Magritte, Escher oder Dalí gibt es Bilder, die das Denkvermögen förmlich überfallen, zu überwältigen drohen oder wenigstens hartnäckig zur Rede stellen. Sie bestehen auf der Lösung ihres Rätsels und entziehen sich zugleich wie eine ironische und maliziöse Sphinx, die sich eine Freiheit des Bildlichen zunutze macht, der die Sperrigkeit der Sprache hinterherhinkt. Ein solches Bild ist Diego Velásquez’ Gemälde »Las Meniñas«, »Die Hoffräulein«. Es gibt kaum ein Werk der Kunstgeschichte, das widerständigere Rätsel aufgibt. Hunderte von Publikationen* wurden darüber veröffentlicht [*vgl. Literaturhinweise]; um die Menge der subtilen Deutungsversuche, die ganze Bände und Anthologien füllt, auch nur zu referieren, brauchte es ein semesterlanges kunstgeschichtliches Seminar. Man sollte zwar meinen, um ein Bild, das fast 350 Jahre alt ist – es wurde 1656 gemalt –, müssten die Diskussionen doch allmählich abebben, und sei es noch so rätselhaft in seiner Anlage, noch so verdunkelt von hermeneutischen Überlagerungen, schleichendem Missverständnis und alles überdeckendem Vergessen. Aber das ist nicht der Fall, im Gegenteil. Je mehr Scharfsinn und geschulte Beobachtungsgabe aufgewandt werden, um so mehr entzieht sich das Werk der Vereindeutigung und jeder endgültigen Feststellung seines vermeintlichen Sinnes.

Daran ändert nichts, dass die Vielzahl gelehrter und subtiler Deutungen, die an dem Bilderrätsel herumkauen, sich zumeist widersprechen, ja einander entschieden ausschließen und jeweils für sich allein die nunmehr definitiv endgültige Lösung reklamieren. Die Klassizität und Stärke eines Kunstwerkes soll sich nach Ansicht vieler Hermeneutiker gerade daran ablesen lassen, dass es alle Interpretationsversuche unbeschadet übersteht, ohne seine Geheimnisse preiszugeben, auf denen seine Anziehungskraft beruht. Die Debatte über das Bild von Velásquez hält jedenfalls an und ist immer noch spannend. – Vielleicht hängt die anhaltende Aktualität in unserem Fall auch damit zusammen, dass sich unter jenen, welche die von »Las Meniñas« annahmen, einer der wirkmächtigsten und originellsten Philosophen der Postmoderne befand: Michel Foucault stellte 1966 eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Bild als Portal an den Beginn seines großen Werks über die europäische Denkgeschichte, »Die Ordnung der Dinge«. Über beides, Buch und Bild, an einem kurzen Abend zu berichten, stellt ebenfalls eine Herausforderung dar, die ich ohne große Umstände an Sie weitergeben muss. Die Menge der Fragen, die offen bleiben, wenn der Vorhang fällt, wird beträchtlich sein. Ich hoffe, Sie empfinden dies weniger als Defizit, sondern als Verlockung, sich mit beidem, Bild und Buch, näher zu beschäftigen. Ich versuche eine erste Einführung.

Wagen wir zunächst einige Schritte in das barocke Labyrinth der Repräsentation, das Velásquez uns hinterlassen hat, diesen Irrgarten der Perspektiven und Blickwechsel, dieses buchstäbliche Spiegelkabinett, in dem Realität und Virtuelles, Schein, Wirklichkeit, Täuschung und kunstvolle Verdichtung des Sichtbaren und Unsichtbaren auf verwirrende Weise ständig ihr Gesicht wechseln. Versuchen wir Überblick zu gewinnen und zu behalten. Der Vorhang ist abrupt beiseite gezogen.

Bildbeschreibung

Vor uns öffnet sich – wie eine Bühne, deren Boden (zumindest in der Hängung, wie sie der Prado in Madrid vorschlägt) in etwa der Ebene des Betrachterstandorts entspricht –  ein hoher saalartiger Raum, dessen hinterer Teil in diffusem Dämmerlicht liegt. Von rechts, aus einem in starker perspektivischer Verkürzung gerade noch erahnbaren Fenster fällt volles, gemischtes, goldenes Tageslicht auf eine reizende bewegte Szene, ein barockes Ballett, prunkvoll, ein wenig puppenhaft zeremoniell und auf geheimnisvolle Weise hintergründig. Eine Reihe von Personen sind, wie auf einem Schnappschuss, mitten in ihrer Bewegung eingefroren. Einige von ihnen schauen überrascht »in die Kamera«, beinahe wie ertappt, so wie metaphysisch unternehmungslustige Möbelstücke, die gerade ein Tänzchen probiert haben, als der Bewohner plötzlich heimkommt und sie auf frischer Tat überrascht. Unmittelbar ist das Rauschen, Rascheln und Knistern der teuren Kleider verstummt. Alles hält den Atem an. Der sensible Betrachter fühlt sich wie einer Indiskretion überführt. »Verzeihung, ich wollte nicht stören!« Aber wobei stört man? Was wird hier gespielt? Und für wen? Man kann sich zunächst an die Positivität der Fakten halten, denn über den Raum und das Personal des Bildes ist dank der bürokratischen Inventarisierungslust der Hof-Archivare und Kustoren mehr bekannt, als bei anderen Werken dieser Zeit. Die Szene spielt sich in einem Flügel des Palastes Alcázar in Madrid ab, zur Zeit der Regentschaft Phillip IV., des vorletzten Habsburgers, deren Dynastie mit Karl dem Wahnsinnigen die Herrschaft über das spanische Reich verlieren wird. Zu sehen sind der Hofmaler Velásquez sowie einige (überwiegend namentlich bekannte) Mitglieder des Hofes*. [*Der Höfe, müsste es eigentlich heißen, da König und Königin getrennte Haushalte führten, deren Angestellte und Mitglieder hier zusammentreffen.]

Die Szene widersetzt sich der natürlichen (europäischen) Neigung, Bilder von links nach rechts zu lesen, denn der Blick des Betrachters wird zunächst aufgefangen und lange genug festgehalten von der monströsen Gestalt der deutschstämmigen Zwergin Maribárbola im rechten Vordergrund. Sie zieht in das Bild hinein, mit ihrem Wasserkopf und den dunklen, dummen Knopfaugen, mit einem karikaturhaften Körper, dessen Überproportioniertheit sie optisch ganz nach vorn drängt, als würde sie gleich die plumpe Nase an der imaginären Schaufensterscheibe platt drücken, die den Bildraum vom Raum des Betrachters trennt. Zwerge und Verwachsene spielten eine wichtige kontrastierende und kompensatorische Rolle in der politischen Ästhetik des spanischen Hofes; Velásquez hat viele von ihnen mit Akribie und Liebe porträtiert. Zwischen Maribárbola und uns befindet sich nur noch der massige, gutmütig-schläfrige Hirtenhund, dem der kleinwüchsige italienische Hofkomödiant Nicolas Pertusato gerade von der äußersten rechten Seite her frech einen Tritt versetzt, um ihn zu wecken, zu necken oder aus der Szene zu scheuchen, in der er nichts zu suchen hat*. [* Vielleicht aber doch, falls er hier, wie manche Interpreten meinen, als Allegorie der Treue fungiert. Dazu würde passen, dass die Zwergin in der krampfhaft vor die Brust gepressten Rechten einen winzigen Ring zwischen Daumen und Zeigefinger zu halten scheint – auch dies eine allegorische Geste der Treue.] Wir könnten der aufsteigenden Diagonale, die über Hund, Komödianten und Zwergin weiter empor führt, folgen, doch unsere Augen werden verführt, direkt zum Zentrum der Gruppe überzugehen, zu der Sonne, um die herum das kleine höfische Planetenballett ganz offensichtlich gravitiert. Die vertikale Mittelachse des gravitätischen Tableaus geht zwischen ihren Augen hindurch, schneidet sich dort exakt mit der unteren horizontalen Drittellinie.

Die Infantin

Das entzückende Menschen-Blümchen aus Seidendamast, Spitze und flaumigem, flachsblonden Haarschleier, das die Szene trotz seiner Zartheit und Winzigkeit eindeutig dominiert, ist Doña Infanta Margerita, die kleine Tochter seiner regierenden Majestät Phillip IV. und seiner zweiten Frau Maria Anna. Sie ist die jüngere Schwester der Infantin Maria Teresa, die auf dem Bild fehlt, gerade sechs Jahre alt, für den exzentriscchen und depressiven Vater ein Sonnenscheinchen und Herzenstrost, für den Hof und die Dynastie eine eher widerwillig und bänglich akzeptierte Hoffnungsträgerin, nach dem der erste männliche Thronfolger des Hauses Habsburg, Balthazar Carlos, verfrüht das Zeitliche segnete. Nur zehn Jahre später wird das Zier-Püppchen die Kaiserin von Österreich sein und mit zweiundzwanzig dann auch schon tot. Margaretchen ist ein Spitzenprodukt Habsburger Dauer-Inzests: blutarm, dünnhäutig, labil, überzüchtet, früh frigide wie ihre steife, frustrierte Mutter, die aus Staatsräson ihren eigenen, doppelt so alten Onkel heiraten musste. Von 56 Verwandten haben König Felipe und Königin Maria Anna 48 gemeinsam. Dynastische Zwänge scherten sich nicht um die beängstigende Verknappung des Gen-Pools. Noch weiß das Prinzesschen von alledem nichts, nichts von Politik und Krieg mit Frankreich und von der bevorstehenden Existenz als Zuchtstute europäischen Herrschergeblüts, deren argwöhnisch beobachtete Menstruationszyklen Einfluss auf das Schicksal ganz Europas haben. Dass sie nichts als ein lebender dynastischer Faust-Pfand für Städte, Häfen, Landstriche, Bodenschätze und Soldatenmassen ist, wird sie noch nicht wissen. Zu repräsentieren hat sie aber bereits gelernt, wahrscheinlich früher als andere Kulturtechniken. Sie wird es auch schon gewohnt sein, im Mittelpunkt zu stehen, so wie jetzt, nach dem Willen des Malers oder vielleicht auch des geheimnisvollen Regisseurs im Hintergrund, der uns aus der rückwärtigen Türöffnung, die ins Treppenhaus führt, einen unbestimmten (verschwörerischen? stolzen? prüfenden?) Blick quer durch den Raum zuwirft. Ein Kind im Angelpunkt der sich drehenden Welt und im Zentrum des Bildes.

Um die quasi-göttliche Stellung der Infantin zu unterstreichen, kniet ihr zur Rechten, ikonographisch an eine mittelalterliche Stifterfigur oder einen Verkündigungsengel erinnernd, eine junge meniña, ein hochadliges Hoffräulein, deren Name mit Doña Maria Agustina de Sarmiento angegeben wird. Sie bietet ihrer Herrin auf einem Silbertablett einen bucáro, einem Krüglein aus duftendem ostindischen Ton, mit parfümiertem Wasser an, das die Infantin, wiewohl vielleicht durstig, mit herrscherlicher Selbstdisziplin zurückweist. Ihr zur Linken, leicht knicksend, präsentiert ein weiteres Hoffräulein namens Doña Isabel de Velasco auf einem rein imaginären Tablett das royale Sahnestückchen, die süße Infantin höchstselbst den Blicken. – Wessen Blicken? Den unseren? Anscheinend. Vielleicht. Man wird sehen. – Täuscht es, oder hat die Anmut der kleinen königlichen Infantin schon etwas Künstliches, Einstudiertes? Vielleicht liegt es an dem putzig-monströsen Kleidchen aus grau-rosa Seidendamast, das schon mit guardainfantes versehen ist, diesen bizarren Drahtgestell-Auswüchsen an den Hüften, mit denen die Mädchen und Damen des Hofes aussehen wie kleine oder größere Segelschiffe, die scheinbar antriebslos über das Parkett schweben. René Descartes zeitgenössische methodische Mutmaßung, in den Kleidern der Anderen möchten vielleicht bloß Maschinen statt wirklicher Menschen stecken, wird durch diese feminine Mode stark begünstigt. Damen ohne Unterleib segeln im Glanz der kristallenen Kronleuchter durch die Prunkgemächer der Paläste, wie auf Rollen, das verkleidungsbedürftige Gestänge oder Räderwerk des Bewegungsapparats unter luxuriös üppigen Massen rauschenden Stoffes und duftiger Spitzen verborgen.

Aber schauen Sie das niedliche Luxus-Mäuschen genau an! Diese ganz leicht kokette Drehung des Kopfes, mit der das Prinzesschen ihr flaumiges Goldhaar ins rechte Sonnenlicht setzt, diese unmerkliche, elegante Wendung des Oberkörperchens dem Betrachter zu, ganz huldvolle Konzilianz und zierlich gezirkelte Noblesse – ist das nicht eine Anmut und Grazie, die schon um sich weiß, die schon reflektiert ist und daher bald vergehen muss? Es fallen einem Heinrich von Kleists kluge Erwägungen hinsichtlich der Grazie in seinem Aufsatz »Über das Marionettentheater« ein. War es nicht darin ein Spiegel und die rekursive, narzisstische Selbst-Beobachtung, die dem graziösen Jüngling unversehens seine Anmut raubte? Verfolgt man die Blicke der Infantin und Doña Isabels bis dahin, wo sie sich überschneiden: Wer befindet sich dort? Was fixieren die beiden mit ihren Blicken? Sehen sie tatsächlich uns, die Betrachter des Gemäldes an, wie so oft behauptet wird? Aufgrund der Größen- und Perspektivverhältnisse müssten sie in diesem Falle ein wenig zu uns aufschauen, was sie indessen nicht tun. Machen sie nicht viel eher den Eindruck zweier befreundeter junger Damen, deren eine das Kleid der anderen gemeinsam mit ihr in einem Ankleidespiegel begutachtet? Ich wette darauf, dass Sie in jeder modernen Boutique exakt solche Szenen der Blickkreuzung beobachten könnten! Auf diese Frage müssen wir zurückkommen.

Der Maler und sein Bild

Sehen wir zunächst weiter. Was uns natürlich schon die ganze Zeit beunruhigt und unseren Blick anzieht und fesselt, ist die ungewöhnliche, provozierende Figuration in der linken Bildhälfte. Eine mächtige Leinwand, in einen Keilrahmen gespannt, ragt vor uns auf, unübersehbar und undurchsichtig blind. Sie scheint wie gegen die imaginäre Trennscheibe gelehnt, die den Bildraum vom Realraum der Bildbetrachtung scheidet. Eine schroffe, undurchdringliche Blindheit, denn wir sehen nur ihre hoch aufragende Rückseite. Was auf ihrer Vorderseite möglicherweise im Entstehen begriffen ist, das work in progress des Malers, bleibt uns auf ewig verborgen. Wir wissen nicht, ob sich darauf ein fast fertiges Gemälde befindet oder vielleicht nicht einmal der erste skizzierende Strich getan ist. So scheint es jedenfalls zunächst. Die Leinwand hat beträchtliche Ausmaße. Die planimetrische Berechnung ergäbe ein Format, das auffallend demjenigen ähnelt, das das Gemälde besitzt, das wir gerade realiter anschauen: »Las Meniñas« misst im heutigen Zustand 3,18m mal 2,76m. Ob das ein Zufall ist? –  Wenn das Gemälde auch nur die Rückseite des gemalten Gemäldes repräsentiert, den Träger der Repräsentation, so sehen wir dafür wenigstens den Maler, und diesen wiederum, weil er gerade nicht malt. Wie der von Velásquez neidlos bewunderte Peter-Paul Rubens in seiner beunruhigenden düsteren Miniatur [»Maler im Atelier«, 1628, Boston] ist er einige Schritte von der Leinwand zurückgetreten, um innezuhalten. Seine rechte Hand mit dem Pinsel verharrt auf halbem Wege zur Palette, die auf seinem linken Unterarm ruht; er neigt den Kopf leicht schräg zur linken Schulter, um konzentriert, nachdenklich, prüfend etwas zu betrachten – sein Modell, darf man annehmen. Er schaut zu diesem Zweck fast senkrecht aus dem Bild heraus. Fast zwingend kommt es uns so vor, als fixiere der gemalte Maler uns, die Betrachter des Bildes, auf dem er erscheint. Allerdings verhehlt der Maler, der diesen Maler malt, uns nicht, dass der Porträtierte ein wenig schielt. Auch ein anderes Selbstporträt von Velásquez zeigt diesen Silberblick. Die kleine, aber unübersehbare ­Parallaxen-Verschiebung verleiht seinem Gesicht etwas irritierend Lebendiges und verrät eine gespannte Unruhe, als wolle er Modell und Bild, Wirklichkeit und Repräsentation gleichzeitig unter die Kontrolle seines Blicks bringen.

Wir wissen, dass sich der Maler hier selbst bei der Arbeit porträtiert. Vor uns steht, selbstbewusst, alle anderen Figuren des Bildes überragend, beinahe herausfordernd inmitten der hochadligen Entourage, Don Diego Rodriguez de Silva Velásquez, erster Maler des Hofs, Hofmarschall und aposentador, Kammerherr des Königs Phillip IV. von Spanien. Ein Schlüssel, der in seinem Gürtel steckt, es handelt sich um den Generalschlüssel zu allen, auch den Privatgemächern des Königs, verweist dezent auf seine Würde. Velásquez malt Porträts in der Regel kompromisslos naturalistisch; aber sollte er sich selbst hier nicht ein wenig geschönt haben? Immerhin ist er zum Zeitpunkt der Entstehung des Bildes bereits 57 Jahre alt und steht vier Jahre vor seinem Tod. Doch sein volles langes Haar und der martialische Schnurbart sind ohne Silberfäden, der olivfarbene Teint des Gesichts klar und straff, der Blick fest und die Hand ruhig und sicher. Das flammend rote, geschwungene Kreuz auf seiner Brust ist, so viel wir wissen, nicht von ihm gemalt. Man hat es später, so berichtet die Anekdote jedenfalls, auf Befehl des Königs hinzugefügt, es signalisiert die Aufnahme Velásquez’ in den exklusiven, dem Hochadel vorbehaltenen ­Santiago-Militärorden, einen Lebenstraum, den der Regent ihm erst spät, am Ende seiner Laufbahn, erfüllen sollte. Ob geschönt oder nicht, das Selbstporträt in diesem Zusammenhang, in dieser Konfiguration, inmitten der unmittelbaren Entourage des Königs und seiner Familie, zeugt von Selbstbewusstsein, und es hat Höflinge gegeben, die das als skandalös empfanden. Sicher ist Velásquez lange nicht der erste Maler, der sich selbst bei der Arbeit oder versteckt, maskiert als handelnde Person eines narrativen Bildes, porträtiert hat, wir kennen das von Michelangelo, Raffael, Caravaggio, Rubens und anderen, – aber doch nicht so dreist und arrogant, buchstäblich in Augenhöhe mit den königlichen Auftraggebern!

Velásquez konnte sich leisten, das Getuschel der Höflinge zu ignorieren. Seine Karriere war mit außergewöhnlicher Stetigkeit verlaufen, was mit der eigentümlich krisenfreien, gleich bleibend hohen Qualität seiner Bilder korrespondiert. Schon mit elf Jahren war er in die Lehre gegangen, um beim führenden Maler der Zeit, Francisco Pacheco, das Malerhandwerk zu erlernen; mit kaum achtzehn Jahren erlangte er den Gildenbrief, die Hand der Tochter des Lehrherren nebst ansehnlicher Mitgift sowie dessen lebenslange Protektion, und schon mit vierundzwanzig ist er einer der vier bestallten Maler am königlichen Hof in Madrid, wo er durch seine Arbeit das anhaltende Wohlwollen, am Ende vielleicht sogar die Freundschaft des Regenten Phillip IV. erringt. Der vorletzte Habsburger auf dem spanischen Thron ist von ererbter abstoßender Häßlichkeit. Doch die naturalistischen, schonungslosen Porträts aus Velasquez’ Werkstatt gefallen dem melancholischen, nervösen, von sexuellen Obsessionen und religiöser Zerknirschung umgetriebenen Regenten persönlich offenbar besser als die retuschierten, pompösen Staatsporträts, auf denen er aussieht wie ein junger Gott. Die barocke Repräsentation des Herrschers war im Barock ein Mittel der politischen Ästhetik und stand weit über aller persönlichen Eitelkeit. [Die Nonchalance der spanischen Herrscher gegenüber malerischen Darstellungen ihrer Häßlichkeit hält auch später bei den Bourbonen an. Betrachtet man Goyas Porträt der königlichen Familie Karls V., fragt man sich immer, warum das damals nicht wegen majestätsbeleidigender Indezenz sofort verboten wurde…] –  Aus der Politik, den höfischen Intrigen hält Diego Velásquez sich sein Leben lang klug heraus. Als Porträtist, Raumausstatter, Architekt und Kunstexperte des Hofes, zu dessen Aufgaben auch der Ankauf italienischer Kunst und die Entdeckung und Förderung spanischer Talente gehörte, versteht er es, sich unentbehrlich zu machen; selbst sein berüchtigtes Phlegma, die Langsamkeit, mit der er arbeitet, wird vom Herrscher generös toleriert. Ein Werk des Meisters war es allemal wert, dass man zwei oder drei Jahre darauf warten musste! Das stolze Selbstbewusstsein, mit dem er sich in Las Meniñas präsentiert, zieht die Summe seiner Lebensarbeit und was er malt, ist nichts weniger als die philosophische Summe der Malerei.

Weitere Bildbeschreibung

Kehren wir daher zum Bild zurück. Nicht nur die Personen, selbst der Schauplatz der Szene ist bekannt. Der hohe, ein wenig düstere Raum – ein Teil der insgesamt sechs hohen Fenster ist abgedeckt – befand sich in jenem Seitenflügel des Alcázar, den zuvor der erwähnte Infant Balthasar Carlos bewohnt hatte; die Räumlichkeiten dienten nach dessen frühen Tod Velásquez als Wohn- und Arbeitsräume. 1734 wurden sie bei einem verheerenden Brand des Alcázar vernichtet, doch anhand alter Pläne und Inventarlisten ließen sie sich gut rekonstruieren. Wie aus ihnen hervorgeht, waren die Wände wie bei einer Galerie mit Gemälden, insgesamt etwa vierzig Stück, aus der Werkstatt von Velásquez’ Schwiegersohn Mazo geschmückt. An den Wänden im Hintergrund sind zwei Gemälde gerade noch identifizierbar; es handelt sie um Kopien nach Rubens und Jordaens mit mythologischen Motiven: Arachne und Athene sowie Apollo und Pan, zwei der Geschichten Ovids, in denen sich sterbliche Künstler mit Göttern messen und dafür bestraft werden. Eine versteckte Selbstermahnung zur Bescheidenheit also, möglicherweise, oder aber eine Apotheose der Kunst und ihr Triumph über bloßes menschliches Handwerk. Im rechten Hintergrund des Raumes öffnet sich eine Tür; Stufen führen in helles Sonnenlicht, das aber nicht in den Bildraum dringt. In der Türöffnung befindet sich ein hochgestellter Höfling: José Nieto, Kammerherr der Königin, der einen Blick zurück auf das Geschehen richtet. Es ist schwer zu entscheiden, ob er die Szene gerade betritt oder im Begriff ist, sie zu verlassen; genauso wenig weiß man, ob er den Vorhang, den er in der Rechten hält, auf- oder zuziehen will. Nach meinem Gefühl verlässt er die Szene mit einem Blick zurück, aber die Beinstellung auf den Stufen ließe auch die gegenteilige Deutung zu. In gewisser Hinsicht ist er unser Spiegelbild. Zwischen seinem und unserem Blick entfaltet sich die gesamte Szene. So wie wir auf unserer Seite betrachtet auch er den eigentlichen Bildraum von außen, wenngleich er im Gegensatz zu uns natürlich ein gemalter Außenbeobachter ist, der im Bild zu sehen ist. Wirklich im Gegensatz zu uns? Man wird sehen…

Das Personal ist noch zu komplettieren: im Halbdunkel hinter dem Hoffräulein Isabel de Velasco erscheint noch ein weiteres Personen-Paar, das merkwürdig desinvolviert dort herumsteht: Señora Marcela de Uloa, dem Titel nach guardamujer de las damas de la Reina, also Anstandsdame der Hoffräulein der Königin, murmelt ihrem Begleiter etwas zu; sie scheint der Geste nach irgendetwas zu predigen, Moral wahrscheinlich*, sie trägt Nonnentracht, während ihr Zuhörer, ein namentlich nicht genannter Wachmann des Haushaltes der Königin,  ein guardadamas, den Blick hoch und weit ins Imaginäre richtet, als sähe er eine Erscheinung an der Saaldecke. [* In Wahrheit hat die Handhaltung der Señora einen anderen Grund: in der ersten, später übermalten Version des Bildes hält sie ein Glas, aus dem sie trinkt – man erkennt es noch unter der dünnen Übermalung.] Damit wäre das anwesende Personal komplett identifiziert; Name und Titel des Hundes sind nicht bekannt.

Das Rätsel im Bild: der Spiegel

Natürlich wäre aber die Bestandsaufnahme nicht vollständig, wenn wir jenes auffallende Bild im Zentrum der hinteren Wand des Raumes, links neben der Tür, vernachlässigten. Seine Beschreibung habe ich bislang aufgespart. Es befindet sich etwas links oberhalb des Bildzentrums; die pyramidenhafte Diagonale der Personen (Zwerg, Zwergin, Hofdame, Kammerherr in der Tür) lenken den Blick direkt dort hin. Zweifellos handelt es sich um den mysteriösesten Bestandteil des Gemäldes. Von dem Bild mit dem breiten schwarzen Rahmen geht ein ungewöhnlich kräftiges, irisierendes Licht aus, dessen Quelle zunächst schwer identifizierbar ist. Das unwirkliche Leuchten läßt es wie eine Projektion oder eine Erscheinung, wie eine Epiphanie wirken. Ganz offenbar handelt es sich nicht um noch ein Gemälde, sondern, wie der umlaufende helle Lichtstreifen und die Blendreflexe auf seiner Oberfläche andeuten, um einen Kristallspiegel. In ihm spiegelt sich ein weiteres Personen-Paar, das, obwohl nur schemenhaft erkennbar, doch hinreichend zu identifizieren ist: Es handelt sich um niemand anderes als das erlauchte Paar, seine Katholischen Majestäten König Phillip IV. von Spanien nebst zweiter Gemahlin, Königin Maria Anna, Mutter Ihrer Niedlichkeit der Infantin Margerita. Wenn das Bild also gelegentlich auch unter dem Titel »Velásquez und die königliche Familie« geführt wird, hat das seine Berechtigung: wenigstens virtuell ist auch das Herrscherpaar selbst anwesend, ja es beherrscht sogar in gewisser Weise, trotz seiner Unwirklichkeit und Vagheit, als zweites Zentrum neben bzw. über der Infantin das gesamte Bild. Niemand in der gemalten Szene beachtet den Spiegel, der darum um so mehr unsere Blicke auf sich zieht und uns sogleich irritiert: Denn wo, fragen wir uns, befindet sich das reale Herrscherpaar, deren Spiegelbild wir quer durch den langen, von unregelmäßigen Lichteinstrahlungen gegliederten und bunt bevölkerten Raum hindurch an der hinteren Wand des Saales fixieren? Selbst wenn wir die mathematischen, opto-geometrischen und raum-architektonischen Analysen nicht kennen, denen das Bild inzwischen viele Male unterzogen wurde, fällt schon dem unbewaffneten Auge eine Unstimmigkeit auf.

Der Spiegel hängt etwa in Mannshöhe und ist, berücksichtigt man die kontextuellen räumlichen Proportionen, ungefähr einen Meter hoch. Die Hinterwand des Saales befindet sich, dies lässt sich an Zahl und Lage der Fenster und anhand der alten Pläne berechnen, von der Bildebene des Betrachters etwa 18m entfernt. Der Raum wird stark verkürzt dargestellt und das liegt nicht zuletzt an der auffallenden Unstimmigkeit: Das Herrscherpaar füllt den Spiegel wie ein Brustbild aus. Angesichts dieser opto-geometrischen Relationen müssten sich Felipe und Maria Anna eigentlich innerhalb des uns sichtbaren Bildraumes vor dem Spiegel befinden. Mit anderen Worten: wir müssten sie – als Betrachter in diesem Fall von hinten – im Bild ausmachen können. Das tun wir aber nicht. Eine Art invertierter Vampirismus: Vampire reflektieren sich bekanntlich nicht in Spiegeln, wenn sie hineinsehen. Hier ist hingegen nicht das Ausbleiben, sondern umgekehrt gerade die Erscheinung des Reflexes gespenstisch: Der Spiegel zeigt die Herrscher anscheinend, ohne dass sie in persona hineinblicken müssten.

Der Spiegel ignoriert alles, was er zeigen müsste, um sehen zu lassen, was unsichtbar bleibt. Diese Irritation bringt bei näherer Betrachtung die gesamte Bildlogik ins Wanken. Zunächst: Um einen Kunst-Fehler kann es sich nicht handeln. Velásquez beherrschte die Gesetze der Geometrie, Planimetrie und Optik ohne Zweifel vollkommen; schließlich diente er seinem König nicht nur als Maler, sondern auch als Architekt und Innenausstatter (u. a. auch von Spiegelsälen!) und selbstverständlich verfügte er über die bei Malern gebräuchlichen technischen Mess- und Abbildungshilfen wie Dürers Glasrahmen mit Linienraster oder eine camera obscura. Auch wenn Velásquez zumeist alla prima malte, ohne Skizzen und Vorentwürfe: Ein Irrtum in der Berechnung der Perspektivlinien ist ziemlich ausgeschlossen. Außerdem war er mit dem dargestellten Raum und seinen Verhältnissen intim vertraut. Er selbst hatte seinen Ausbau, seine Renovierung und seine Dekoration als Architekt, Ausstatter und Galerist persönlich geleitet.

Varianten der Deutung

An diesem Spiegel, der nicht zeigt, was er soll und dafür anscheinend abbildet, was er will, aber eigentlich nicht kann, entspringen und verzweigen sich die Wege der Interpretation. Zwei Deutungsstrategien zeichnen sich, durch zahlreiche Varianten hindurch, als prinzipiell möglich ab. Beide haben gravierende organisierende Konsequenzen für das Verständnis der gesamten Bildlogik und führen zu disparaten Ergebnissen. Die erste geht davon aus, dass der Spiegel einen Ort außerhalb des gemalten Bildraumes reflektiert, und zwar genau den Ort, den momentan wir, die Betrachter vor dem Bild, einnehmen. Wir besetzen den Platz gewissermaßen stellvertretend, denn gerade hier sollten ja König und Königen sich befinden, um dem Maler Modell zu stehen. Wir werden virtuell in die Zeit der Entstehung des Bildes zurückgeholt, tragen die Kleider des Herrscherpaares, stehen dem Maler, den wir gemalt vor uns sehen, Modell für ein Doppelporträt und werden dabei von der Gruppe überrascht oder besucht, die sich vor uns aufbaut. Das Licht, das von vorne rechts hereinfällt, beleuchtet zwei ontologische Ebenen, zwei Wirklichkeiten: die Gruppe im Bild und uns, die wir gewissermaßen in dem kleinen »Balkon aus Licht« (M. Foucault) stehen, der virtuell den Raum vor dem Bild beleuchtet. Der Spiegel, das Licht und die Blicke derer, die aus dem Bild herausschauen, verklammern uns mit dem Geschehen, holen uns in die Wirklichkeit des Bildes hinein bzw. verlängern diese in unsere Lebenswirklichkeit hinaus. Nicht nur der gemalte Außenbeobachter in der jenseitigen Tür, auch wir selbst sind in gewisser Weise zugleich innerhalb und außerhalb des Bildgeschehens platziert. Der Platz des Königs überlagert sich mit unserem Standort; wir werden selbst zum Zentrum der Choreographie der Repräsentationen, sind ihr Subjekt und ihr Objekt zugleich; denn unser Standpunkt ist ja nicht nur der des Königs, er ist zugleich derjenige des Malers, der »Las Meniñas« malt.

Vermittels des gemalten Spiegels sehen wir infolge einer verwirrenden Interferenz und einer »unmöglichen« Überkreuzung der Blicke, die allein von der Kunst der Malerei hervorgebracht werden kann, aus den Augen des Malers und zugleich aus denen seines Modells, das er betrachtet und malt; und während wir so als Subjekt-Objekt uns betrachtend betrachtet werden, sind wir wiederum zugleich und darüber hinaus betrachtetes Objekt für die Szene aus Figuren, die uns aus dem Bild heraus ansieht und sich vor uns spreizt und die wiederum wir unsererseits als Gemälde anschauen. Unsere massive, zweifelsfreie Identität wird von dem Bild gleichsam angenagt und bröckelt: in dem wir das Gemälde betrachten, sehen wir uns als gesehene Objekte, deren indirekte Repräsentation unseren scheinbar sicheren Standort in ein Spiel von Perspektiven auflöst, in ein Netz einander überkreuzender, sich überlagernder, interferierender Blickstrahlen diffundiert, so dass wir Mühe haben, uns wieder zusammenzusuchen.

Eine ungemein zwingende Dynamik entfaltet sich entlang der Blicklinien; immer sind wir als Betrachter zugleich aus der Sichtbarkeit ausgeschlossen und in das Bildgeschehen einbezogen; die Grenzen von Innen und Außen erscheinen genauso fließend wie die zwischen Wirklichkeit, Spiegelreflex und künstlerischem Abbild. Man fühlt sich an Nam June Paiks großartige Installation mit dem meditierenden Buddha vor dem Fernsehgerät erinnert, der, durch eine gleichgerichtete Videokamera aufgenommen und auf den Schirm projiziert, sich selbst dabei betrachtet, wie er dabei betrachtet wird, zu betrachten, wie er betrachtet wird… usw. Die Endlosschleife der Selbstreferentialität liegt dem Verschaltungsplan zugrunde, der uns wie hypnotisiert vor das Gemälde bannt, je länger wir uns auf es einlassen. Eine solche raffinierte und hochkomplexe Überlagerung von Realität, virtueller Spiegelreflexion und gemaltem Abbild, von repräsentierter Repräsentation und ihrer ständigen reziproken Umkehrung und Inversion ist verständlicherweise philosophisch außerordentlich reizvoll; Foucault wird, wie wir noch sehen werden, diesem Reiz erliegen.

Kritische Fragen

Der offensichtliche Nachteil dieser ersten Deutungsmöglichkeit liegt darin, dass das Bild als naturalistische Darstellung genommen den optischen und geometrischen Gesetzen nicht entspricht. Ist es wahrscheinlich, dass Velásquez, der große geistvolle Naturalist, eine solche Vergewaltigung der Raumdimensionen und Reflexionsgesetze um des intellektuellen Effektes willen bewusst riskierte? Die Irritation betrifft hierbei nicht nur die merkwürdige Anomie des Spiegels. Es erhebt sich auch die Frage, was für ein Bild der gemalte Velásquez in dieser Konstruktion des Bildgeschehens denn malen soll. Ein Doppelporträt des Herrscherpaares, wird uns vorgeschlagen. Was wir im Spiegel sehen, sei das Herrscherpaar, das gerade für ein Doppelporträt Modell steht, an dem der gemalte Velásquez malt. Aber ein solches Paar-Porträt hat Velásquez niemals hergestellt, weder in dieser völlig unüblichen und monströsen Größe von neun Quadratmetern, noch überhaupt je, es sei denn eben jenes Paar verschwommener Figürchen, das im Spiegel aufschimmert. Das ist keine zufällige Tatsache.

Ein Format von drei mal drei Metern Leinwand wäre allenfalls für repräsentative Reiterdarstellungen (inklusive Pferd) in Frage gekommen, wie sie vielleicht im Saal des Kriegskabinetts oder im großen Audienzsaal für ausländische Staatsempfänge Aufnahme fanden. Eine intime, beinahe häusliche Szene wie die vorliegende eignet sich kaum dafür. [»Las Meniñas« übrigens hing an der Wand, oder stand wahrscheinlich auf dem Boden, des persönlichen Arbeitszimmers Phillip IV., das sich eine Etage höher direkt über dem gemalten Saal befand!] Doppelporträts des Königs zusammen mit seiner Gemahlin waren unter den Habsburgern unüblich, sie wären politisch-dynastisch und in Bezug auf die spezifischen Repräsentationserfordernisse des Hofes unnütz gewesen und hätte dem Dekorum des höfischen spanischen Barock widersprochen. In den knapp vier Jahrzehnten, die Velásquez am Hof arbeitete, hat er die Mitglieder des Königshauses denn auch stets nur einzeln porträtiert, allenfalls in Begleitung ihrer Zwerge oder Haustiere. Müssen wir uns also von der philosophisch und erkenntnistheoretisch reizvollen Deutung verabschieden, weil sie den sichtbaren Tatsachen widerspricht?

Oder ist alles ganz anders?

Wenden wir uns probehalber der zweiten Deutungsmöglichkeit zu. Ihre These geht zunächst davon aus, dass der Spiegel in der Tat etwas repräsentiert, was im Bildraum real vorhanden ist. Er zeigt nämlich einen Ausschnitt der Leinwandoberfläche, die uns als Betrachtern verborgen bleibt, da nur ihre Rückseite gezeigt wird. Was wir im Spiegel erblicken, ist ein – in etwa zentrales – Bestandteil des Bildes, das der gemalte Velásquez gerade zu malen im Begriff ist, und dies ist gar nicht verwunderlich, denn er malt nämlich eben dasjenige Bild, das wir gerade betrachten: »Las Meniñas«. Der dargestellte Spiegel spiegelt keine lebendige, d. h. außerbildliche Realität, sondern nichts als einen wiederum gemalten (bzw. als gemalt gedachten, weil selbst nicht sichtbaren) Spiegel, in dem schemenhaft und verschwommen das Herrscherpaar erscheint. Für diese indirekte und reduzierte Darstellung wird Velásquez kaum das lebende Modell benötigt haben; er hatte zwanzig Jahre Zeit, um Phillip, und sechs Jahre, um Maria Anna aus nächster Näher zu studieren. Er malt sie schlichtweg aus dem Gedächtnis der täglichen Anschauung.

 – Ja, aber, Moment, wird man einwenden, wenn er tatsächlich dabei zu sehen ist, wie er »Las Meniñas« malt, hieße das doch erklären müssen, warum ihm seine realen Modelle, die Infantin und ihr Gefolge, auf dem gemalten Bild den Rücken zuwenden? Wem präsentieren sich dann die reizenden Figürchen in ihren wundervollen Kleidern? Für wen haben sie sich so herausgeputzt und aufgebaut? Wen schauen Infantin, Zwergin und Hoffräulein an? Sie interessieren sich ja weder für die Leinwandoberfläche, auf der das Bild entsteht, noch für den ominösen Spiegel, noch für den Maler und seine Arbeit. Und dass die gemalten Figuren sich neugierig zusammendrängen, um ihre zukünftigen realen Betrachter zu studieren, scheint denn doch ein Maß an ironischer Selbstreferentialität vorauszusetzen, das die künstlerischen Denkbarkeiten der Zeit überschreitet. Und wen fixiert eigentlich Velásquez, der Maler, der von seinem Werk zurückgetreten ist, als wolle er einen kritisch prüfenden Blick auf sein Modell werfen? Wenn unsere Deutung stimmte, stünde er ja hinter seinen Modellen, in ihrem Rücken, was doch recht ungewöhnlich und unbequem wäre. Manche Interpreten hat dieser Umstand dazu gebracht, von einer Pause zu phantasieren, in der sich die Modelle gerade von der Porträt-Sitzung erholen und dabei vom zufälligen Eintritt des Herrscherpaars überrascht werden. Aber ist das kohärent und überzeugend? Warum pausiert der Maler dann nicht auch? Warum erweist er dann den Herrschern nicht seine Referenz, anstatt sie kühl und herrisch zu fixieren wie ein Paar Blumenvasen? Und sind es wirklich wir, die anonymen, unablässig wechselnden, unsichtbaren Betrachter, das plebejische Publikum, dem das ganze gezierte Hof-Theater aufgeführt und dargebracht wird?

Nootebooms Geschichte

Einen bedenkenswerten Versuch, das Dilemma aufzulösen, unternahm, neben anderen Kunsthistorikern, die im Grundsatz ähnlich argumentieren, der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom, der dem Rätselbild im Madrider Prado derart verfiel, das er uns ausdrücklich warnt, sich auf dieses einzulassen. In seinem Reise-Buch »Umweg nach Santiago« erzählt er die folgende Geschichte. Auf einer seiner Reisen besuchte er ein Rotlicht-Viertel in Bangkok, wo sich ihm in einer dunklen Seitenstraße ein merkwürdiges Schauspiel darbot. Es reihte sich dort eine Vielzahl von beleuchteten Schaufenstern aneinander, in denen Prostituierte sich zur Schau stellten. Angegafft von den flanierenden Freiern, sahen die aufwendig geschminkten und aufgeputzten Frauen mit sonderbar leeren Blicken durch diese hindurch, als existierten sie gar nicht, aber sie schienen zugleich auch mit lebensvollen Augen etwas direkt vor ihnen Befindliches zu betrachten. Man konnte sie beim Sehen sehen, ohne selbst gesehen zu werden und damit einen gefährlichen oder beschämenden Blickwechsel von Auge zu Auge zu riskieren. Die Erklärung für den scheinbar gegenstandslosen und doch intentionalen Blick der Frauen fand sich in der Tatsache, dass es sich bei den Schaufensterscheiben um Einwegspiegel handelte. Die Prostituierten betrachteten sich selbst im Spiegel, der von der Straßenseite her durchsichtig war und es den Freiern erlaubte, sie zu begutachten, ohne selbst gesehen zu werden. Der erotisch-voyeuristische Reiz des Sehens-ohne-gesehen-zu-werden ist seit langem bekannt: er verrät einiges über die Macht des Blicks und die dialektischen Implikationen des Blickwechsels, wie sie vor allem Jean-Paul Sartre in seiner grandiosen Analyse über den Blick [In »Das Sein und das Nichts · Versuch einer phänomenologischen Ontologie«] dargestellt hat.

Vor zwei Jahren gab es in einer Düsseldorfer Kunstausstellung mit dem Titel »Ich als ein Anderer« eine Rauminstallation, bei der ein ähnliches Erlebnis möglich war, wie Nooteboom es beschreibt. Während sich Besucher in einer begehbaren, rundum verspiegelten Kammer betrachteten und ihre Faxen machten, konnten sie in einem abgetrennten Abteil von anderen Besuchern durch den Spiegel hindurch beobachtet werden. Bedingt durch die sequentielle Architektur der Spiegelkammer wussten diejenigen, die sich im Spiegel anschauten, nicht, dass der Spiegel gleichsam Augen bekommen hatte, selbst sehend geworden war und dass die hinter ihm befindlichen Beobachter ihnen gleichsam ihren eigenen Blick auf sich selber entwendeten. Die Beobachter im zweiten Abteil sahen in einer die Seitenverkehrung aufhebenden Weise das, was die Beobachter im ersten auch sahen – ein entspiegeltes Spiegelbild sozusagen, und waren zugleich für die lebensvollen, intentionalen Blicke der anderen unsichtbar. Ein leiser Schwindel ist das Resultat, ein Wanken des gemeinsamen kommunikativen Bodens, den normalerweise das Spiel der Blickwechsel in der Balance hält. Die alltägliche intersubjektive Oszillation der Subjekt-Objekt-Beziehung, die unsere wahrgenommene Objektivierung als sehend-gesehenes Subjekt in Spannung hält, wurde durch gezielte Unterbrechung des Blickwechsels erfahrbar gemacht.

Die Macht des Blicks

Man kann nachvollziehen, dass Nooteboom ein solches Erlebnis in den Sinn kam, als er im Prado vor »Las Meniñas« stand. Denn, tatsächlich, plötzlich gäbe alles einen Sinn. Man muss sich nur vorstellen, dass der Raum, den das Gemälde öffnet, von einem Einwegspiegel abgeschlossen wird, dessen reflektierende Seite der Szene und ihren Personen, die durchsichtige Seite aber dem Betrachter zugewandt ist. Velásquez, die Infantin, Doña Isabel und die Zwergin Maribárbola fixieren jeweils niemand anderen als – sich selbst in einem großen Spiegel! Wir als Betrachter sind dadurch auf verblüffende Weise sowohl einbezogen als auch ausgeschlossen. Wir wohnen als verborgene Beobachter einer rekursiven, narzisstischen Szene bei, in dem wir durch den imaginären Einwegspiegel hindurch ihre geheimnisvolle, subtile Dynamik betrachten. Ich weiß nicht, auf wann die Kulturgeschichte des Spiegels die Erfindung und Herstellung solcher raffinierten Scheiben datiert und ob Velásquez solche schon kannte; aber selbst wenn das nicht der Fall ist, für die Bildkonzeption und dessen Deutung ist es auch gar nicht wesentlich. Denn er kann sich einen solchen Spiegel sehr wohl wenigstens gedacht haben und gerade daran die Überlegenheit der Malerei demonstriert haben wollen. Der Maler, die Infantin und das Hoffräulein sehen nicht wirklich uns, ihre Blickstrahlen schneiden sich im gedachten Spiegelbild Margaritas, deren Erscheinung sie begutachten. Nur die schwachsinnige Zwergin schaut sich selber ins Gesicht; der Hund schließt gelangweilt die Augen – Hunde reagieren bekanntlich nicht auf ihr Spiegelbild.

Der Sinn des Spiegels

Es erstaunt uns daher nicht, zu erfahren, was Kunstgeschichtler [vgl. Hermann Asemissen, »Las Meninas von Diego Velásquez«, Kasseler Hefte für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik, II, Kassel 1981] mittlerweile herausgefunden haben: der dargestellte, identifizierbare Raum des ehemaligen Alcázar erscheint auf dem Bild seitenverkehrt und auch die Infantin, die öfter porträtiert wurde, trug ihr Haar normalerweise auf der anderen Seite gescheitelt. Velásquez malt also nicht die unmittelbare Realität, sondern die Virtualität, dasjenige, was er und seine Modelle im Spiegel sehen. Ein solches Verfahren war weder ungewöhnlich noch ohne wohlüberlegten Zweck. In Velásquez’ gut ausgestatteter Bibliothek mit philosophischen und kunsttheoretischen Werken befand sich auch der berühmte »Traktat über Malerei« von Leonardo da Vinci, in dem dieser Malern unter anderem zur Verwendung des Spiegels rät:

»402. Wie der Spiegel der Meister der Maler ist. Wenn Du sehen willst, ob dein Bild insgesamt mit der natürlich dargestellten Sache übereinstimmt, nimm einen Spiegel und lasse sich in ihm die dargestellte Sache selbst spiegeln und vergleiche die gespiegelte Sache mit deinem Bild und betrachte dann genau, ob der Gegenstand der einen und der anderen Abbildung miteinander übereinstimmen.«

Ist es nicht exakt dieser Moment, den das Bild zeigt? Stellt es uns nicht, genau wie dem abgebildeten Maler, dasjenige dar, was sie alle in diesem Moment im Spiegel sehen? Das Bild ist praktisch eine Demonstration der ästhetisch und philosophisch-erkenntnistheoretisch hochbedeutsamen Gegenüberstellung, die Leonardo vorgibt: Vergleiche Realität mit ihrer virtuellen Verdopplung im Spiegel einerseits und mit der mimetisch kunstvollen Repräsentation der gleichen Wirklichkeit durch die Malerei andererseits. Ich ergänze: Und erkenne den Triumph der Malerei über das bloße Spiegelbild, die bloß geistlose, unkünstlerische Verdopplung des Wirklichen, wie sie der Spiegel vornimmt. Was in Italien längst anerkannt war, wurde in Spanien zu Velásquez Zeiten noch erbittert umstritten: die Zugehörigkeit der Malerei zu den artes liberales, den freien Künsten. In Spanien zählte man Malerei immer noch zum Handwerk und belegte Künstler mit einer demütigenden Handwerkssteuer auf ihre Bilder. »Las Meniñas« wirbt für die Überlegenheit der Malerei und demonstriert sie. Er zeigt ihren erkenntnismäßigen, welterschließenden Wert. Das Gemälde des Künstlers gehört einer ganz anderen Ordnung an als die bloß technische Verdopplung der Phänomene, die der Spiegel zuwege bringt.

Dies erweist sich auf besonders subtile Weise, wo dieser Vergleich von Bild und Spiegel in einem Bild stattfindet. Die gemalte Repräsentation des Spiegels übersteigt diesen, wahrt aber dessen reflexive Vorteile. Der Jesuitenpater Balthazar Gracián, Autor des berühmten, von Schopenhauer übersetzten »Handorakels« für Höflinge, ein Mann, dessen Lebenszeit sich mit der des Malers Velásquez fast exakt deckt, schrieb in seinen aufklärererisch-satirischen Barock-Roman »El Criticon« über den transzendierenden erkenntnistheoretischen Wert der Spiegel-Reflexion:

»Die Welt im Bezug auf die anderen im entgegengesetzten Sinn sehen, bedeutet, sie von der anderen Seite ihrer Erscheinungen zu sehen. Nur derjenige, der seitenverkehrt schaut, schaut in Wirklichkeit von der richtigen Seite.«

Wenn diese zweite Deutungsvariante dem Gemälde gerecht wird, dann wären wir auf eine Anfangsvermutung zurückgebracht. In dem Falle nämlich, dass die gesamte Gruppe sich vor einem großen Wandspiegel aufgebaut hätte [laut Inventar und durch bildliche Darstellung belegt, besaß der Alcázar solche wandgroßen Spiegel!], ließe sich dies nur damit erklären, dass der Maler gerade im Begriff ist, eben das Bild, das er im Spiegel sieht, zu malen; er malte also das Bild, das wir jetzt anschauen können und lässt dabei mit Hilfe eines gedachten Spiegels die Kunst über diesen triumphieren. Die Reflexion der gemalten Virtualität erlaubt es ihm, auf beiden Seiten zugleich, im Bild und davor, als  Sujet, also Objekt, und Subjekt der Malerei zu fungieren. Solche Inversionen sind aus der Kunstgeschichte durchaus schon bekannt. In Zusammenhang mit »Las Meniñas« wird immer wieder Jan van Eycks »Hochzeit des Giovanni Arnolfini« (1434, London, The National Gallery) zitiert, das zu Velasquez’ Zeiten in der königlichen Sammlung in Madrid hing. Hier hatte der Maler durch den konvexen Rundspiegel an der Wand eine außerbildliche Wirklichkeit (Trauzeugen, den Maler) in das Bild hineinprojiziert. Noch viel frappierender ist Pieter de Claezs’ Vanitas-Stilleben mit der Spiegelkugel (1630, Nürnberg, Germ. Nationalmuseum), in der er sich selbst an der Staffelei das Bild malend, das man sieht, in eben dieses Bild hineinprojiziert hat.

Velásquez’ »Dreh«

Velásquez kannte diese Beispiele projektiver Reflexion, und er überbot sie noch. Während andere Maler den Spiegel im Bild platzieren, um sich selbst und den künstlerischen Produktionsprozess, darin gespiegelt, in das Bild hineinzubringen, das sie malen, dreht Velásquez die gesamte Bühne um 180°und bringt so sich selbst ins Bild hinein, indem er einen Spiegel imaginiert, der sich außerhalb des Bildraumes befindet bzw. diesen begrenzt. Von allen Methoden, ein zweidimensionales Tafelbild in den dreidimensionalen Raum vor seiner Oberfläche heraus zu erweitern, wäre dies wohl eine der raffiniertesten. Nebenbei hätte Velásquez das Kunststück vollbracht, einen unsichtbaren Spiegel darzustellen, der auch noch von einer Seite durchsichtig ist! Sie werden mir recht geben: eine durchsichtige Unsichtbarkeit zu malen wäre schon eine Aufgabe für einen japanischen Zen-Meister. Der Platz des Königs indessen wäre in diesem Fall nicht der unwägbaren Leere außerhalb des Bildraumes ausgesetzt. Er befände sich innerhalb des Bildes exakt im Kreuzungs- oder Umschlagpunkt einer temporalen und ontologischen Schleife, dort, wo sich das Bild, in einem Ausschnitt, eben dem Spiegel, doppelt rekursiv in sich selber spiegelt: der unsichtbare gemalte Spiel in einem gemalten sichtbaren Spiegel; die Malerei weist dem königlichen Herrscher den zentralen Platz zu, an dem er das ganze Spiel der Repräsentation regiert, dort, wo Realität, Virtualität und Repräsentation sich überschneiden und ineinander umschlagen. Mit unnachahmlicher Eleganz und bildnerischer Eloquenz appelliert das Bild auf geradezu unwiderstehliche Weise an den König und sein sachverständiges Kunsturteil, der Malerei ihre höhere Anerkennung nicht länger zu verweigern, in dem sie ihn zum Herrn über alle Dimensionen der Wirklichkeit und ihrer Repräsentation erhebt.

Der Text Foucaults

Wie erwähnt, existiert noch eine Fülle anderer konkurrierender Versuche, »Las Meniñas« zu verstehen; alle können zu Erleuchtungserlebnissen führen. Ganz unübersichtlich wird es, wenn Kunstwissenschaftler dem Gemälde mit Röntgenstrahlen, Infrarotkameras und Computer-Tomographen auf den Leib rücken. Verschiedene Beschnitte, Umarbeitungen und Übermalungen verdecken in ihren Augen ein darunter liegendes, gänzlich anders konzipiertes Bild. Ob damit dreihundert Jahre Deutungsscharfsinn nur Nichtiges zutage gefördert hätten, sei dahingestellt. Für heute sind wir gezwungen, uns an das Sichtbare zu halten, was ja schon genug Unsichtbares birgt. Der eben grob skizzierte Deutungsweg ist einer von vielen; er scheint mir aber eine Menge kunsthistorischer Plausibilität mit hermeneutischer und philosophischer Ergiebigkeit zu kombinieren. Der Philosoph, Historiker und dilettierende Kunstliebhaber Michel Foucault beschreitet ihn jedoch nicht. Er tendiert eindeutig und entgegen manchem Anschein, den das Bild gewährt, zur ersten Deutungsvariante, was mit der Funktion seines Textes über »Las Meniñas« in seinem Buch zu tun hat. Seine Analyse fände ja ihre Befriedigung nicht in einer plausiblen, ästhetisch, hermeneutisch und historisch überzeugenden Interpretation des Bildes. Für Foucault bedeutet »Las Meniñas« einen Glücksfund für die Demonstration seiner Theorien. Er interpretiert das Bild nicht in konventioneller Weise, wie manche Kommentatoren voreilig meinen, er setzt »Las Meniñas« rhetorisch ein und lässt sie als illuminierende Metapher in einem Diskurs fungieren, der nicht ihr eigener ist. Ist eine solche rhetorische Verwendung von Bildern legitim? Man könnte darauf mit einer ebenfalls ihrem Kontext entfremdeten Rede antworten: »Nun, wenn es der Wahrheitsfindung dient…«

Wie ein perfektes Modell visualisiert »Las Meniñas« für Foucault in nuce den komplexen denkgeschichtlichen Zusammenhang, dessen Aufdeckung »Die Ordnung der Dinge« sich zur Aufgabe macht. Ich muss zum Mittel der Simplifikation greifen, um diesen Zusammenhang wiederum nur ganz grob zu skizzieren. Bei aller Vereinfachung bin ich trotzdem gezwungen, etwas auszuholen.

Die Ordnung der Dinge

Im Vorwort zu seinem Buch berichtet Foucault von seinem theoretischen Projekt, in dem er noch ein anderes, diesmal literarisches Bild verwendet, das er dem argentinischen Erzähler, Dichter, Literaturwissenschaftler und Essayisten Jorge Louis Borges verdankt. Er schreibt:

»Dieses Buch hat seine Entstehung einem Text von Borges zu verdanken. Dem Lachen, das bei seiner Lektüre  alle Vertrautheiten des Denkens aufrüttelt, des Denkens unserer Zeit und unseres Raumes, das alle geordneten Oberflächen und alle Pläne erschüttert…und unsere Handhabung des Gleichen und des Anderen schwanken läßt und in Unruhe versetzt. Dieser Text zitiert ‘ eine gewisse chinesische Enzyklopädie’, in der es heißt, daß ‘die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörende, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen’«

Diese Ordnung der Dinge, in diesem Fall der Tiere, scheint uns in der Tat schwindelerregend. Sie wirft, wenn wir über die zum Lachen reizende a-logische Absurdität dieser Zusammenstellung näher nachdenken, die elementare und tiefgründige Frage auf, aufgrund welcher fundierenden Ordnungsschemata und Erkenntnisstrukturen wir eigentlich das Reale klassifizieren, kategorisieren, einander zuordnen oder voneinander getrennt halten. Die fiktive »chinesische Enzyklopädie« sieht die Welt offenbar von einem geheimen, verborgenen Ordnungsnetz überzogen, das uns absurd vorkommt, weil wir es weder kennen noch wirklich denken können. (Aber ist eine lexikalisch-enzyklopädische Ordnung der Weltphänomene nach dem ABC, nach den Anfangsbuchstaben der Substantive, eine weniger »absurde« Methode?) Um die vorgenommene Taxinomie zu akzeptieren, müssten wir – übrigens ganz genauso, wenn wir nicht-fiktive Kulturimporte aus China begreifen wollen wie die Akupunktur, »Tai Chi« oder das in Mode gekommene »Feng shui« – eine Kenntnis davon haben, welches generelle, der Kognition der Phänomene zugrunde liegende Ordnungsschema anzuwenden ist, welche Grammatik den verwendeten Zeichen ihre Stelle zuweist und ihre Differenzen und Entsprechungen generiert. Ob wir eine Konfiguration von Dingen oder eine klassifizierende Taxinomie sinnvoll, absurd oder surreal empfinden, hängt damit zusammen, ob sie sich in den strukturell gegliederten Denkhorizont einordnen und mit ihm vereinbaren lässt, aus dem heraus wir notwendigerweise unsere Welt und ihre Sinnbezüge konstruieren. Damit sind wir bei dem spezifischen Thema Foucaults.

Michel Foucault war am Collège de France Inhaber eines Lehrstuhls für die »Geschichte der Denksysteme«. Seine Forschungen suchten nach eben diesen elementaren kognitiven Ordnungsschemata, die unser gesamtes Weltwissen organisieren und das generative Fundament aller möglichen wissenschaftlichen Erkenntnis bilden. Foucaults leitende Überzeugung war dabei, dass solche epistemologischen Konfigurationen eine Geschichte haben und dem historischen Wandel unterliegen. Was er als philosophischer Historiker der Denksysteme beschreiben wollte, war also nicht eine konventionelle Geschichte des menschlichen Wissens oder der realen Wissenschaften, sondern die Geschichte jener elementaren Strukturen, die alles Wissen allererst möglich machen. Die jeweilige historische Totalität solcher Strukturen nannte Foucault mit einem altgriechischen Begriff »episteme« oder, im Plural, »epistemai« Diese epistemai bilden Foucault zufolge eine Art unübersteigbares »historisches a priori«, ein zugleich zwingendes, einschließendes und verknappendes wie eröffnendes, aufschließendes Raster, durch das die menschliche Erkenntnis Zugriff auf die Welt erlangt und nach dem sie deren Phänomene identifiziert und in bestimmten Klassifikationssystemen ordnet, also eine »Ordnung der Dinge« herstellt, die es wiederum erlaubt, alles neu produzierte Wissen zu sortieren und zu systematisieren. Der Untersuchungszeitraum ist die Neuzeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, von der Renaissance über das von ihm so genannte klassische Zeitalter des 17. und 18. Jahrhunderts bis zur Moderne. Diesen drei Epochen ordnet Foucault jeweils eine bestimmte episteme zu. Für die Renaissance ist dies das Prinzip der Ähnlichkeit, für die Klassik das Prinzip der Repräsentation und für die Moderne das Prinzip des Subjekts oder des Menschen.

Die episteme der Ähnlichkeit

 

Im Bewusstsein der Renaissance (wie auch schon des Mittelalters) war der Kosmos, also der Himmel und die gesamte sublunare, belebte Welt von einem Netz von Analogien durchwoben, das die Bedeutungsfülle der Phänomene generierte und durch Ähnlichkeit in ein symbolisches System brachte. Die Bedeutungsmeridiane durchquerten die gesamte erfahrbare Welt und verbanden Sterne, chemische Elemente, Tiere, Pflanzen und Menschliches miteinander zum einem Kosmos der Entsprechungen, Verwandtschaften, Verweise und multiplen Bedeutsamkeiten. Physiognomische Ähnlichkeiten markierten die Isotope einer durchweg sinnerfüllten Welt, in der alle Phänomene mit anderen verbunden waren und jedes Zeichen auf ein anderes verwies und von diesem her sich seines Sinnes versicherte. Sinnfällige Illustrationen dieses Prinzips bietet etwa die paracelsische Medizin; eine Walnuss glich dem menschlichen Schädel, und wenn sie geöffnet wurde, zeigte sie das physiognomische Analogon der Hemisphären des menschlichen Gehirns – nichts lag daher näher, als sie zu Heilzwecken gegen Kopfschmerzen zu verwenden! Astrologie, Alchymie und Volksmedizin bildeten einige solcher Verwandtschaftssysteme oder Sub-Grammatiken der Ähnlichkeit, die in ihrem Zusammenspiel und ihren Entsprechungen aus der Welt ein lesbares Buch, eine zweite göttliche Offenbarung neben der Heiligen Schrift machten, deren vielfacher allegorischer, symbolischer, moralischer und religiöser Sinn wiederum mit den Phänomenen der Natur korrespondierte. Auch wenn Restbestände, archäologische Scherben dieser Denkstruktur noch heute im Alltagsbewusstsein ganz gelegentlich zu finden sind, regiert sie doch schon so lange nicht mehr die europäischen Erkenntnisweisen, dass ihre Bezugssysteme uns wie wunderliche Willkür und bizarre Mantik erscheinen wollen. Ihre wilde, wuchernde Grammatik der Bezüge, Korrelationen und Ähnlichkeiten kommt uns heute vor wie die Logik einer fernen, fremden Traumzeit, deren Widerschein allenfalls in den kühnen Assoziationssprüngen der psychoanalytischen Deutungskunst noch wetterleuchtet.

Das Zeitalter der Repräsentation, das mit dem Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft zusammenfällt und in Galilei, Descartes, Hobbes, Leibniz, Newton und Locke seine philosophischen Heroen begrüßt, befreit das Denken aus der Übermacht einer solchen magisch-mythisch fundierten Welt geschlossener Symbolisierungen und unverrückbarer Analogien. Im Barock kommt es zu einer umfassenden Krise des Systems der Ähnlichkeiten. (Der große Roman dieser Krise ist für Foucault Cervantes’ »Don Quichote«.) Das Barock ist nicht umsonst die Zeit der Illusionen und Täuschungen, des Theaters und der Chimären, des trompe-l’œil, der Labyrinthe, Irrgärten und Spiegelkabinette. Die Netze der Ähnlichkeit bekommen Risse, verfilzen sich, werden fadenscheinig.

Die Repräsentation

 

Mit der Herausbildung einer neuen methodischen Philosophie und einer Logik, die eine Semiotik und allgemeine Kombinatorik der Zeichen entwirft, treten Elemente einer neuen episteme, eine neue Ordnung der Dinge auf den Plan. Die Analyse, der beweissichernde Vergleich, die experimentelle und analytische Untersuchung von Identitäten und Unterschieden tritt an die Stelle der analogen Spekulation und der divinatorischen Deutung physiognomischer Eigenschaften der Welt. Für Foucault besteht die bahnbrechende Veränderung nicht so sehr in der Mathematisierung und Mechanisierung der Natur, sondern viel grundlegender in der Trennung von Dingen und Zeichen, oder besser: der Emanzipation der Zeichen von der Welt der Analogien. In der episteme der Analogie waren die Zeichen gewissermaßen die Namen der Dinge, mit denen sie manifeste organische Beziehungen unterhielten; ihre Ordnung ergab sich aus der vorgängigen Ordnung der Dinge, in der sie wurzelte. An die Stelle einer solchen organischen Beziehung tritt nun das freie, willkürliche Zeichen, die reine Repräsentation.

Die Zeichen repräsentieren die Dinge und unterwerfen sie erst auf diesem Wege einer taxinomischen, klassifizierenden Ordnung. Die Natur verwandelt sich in die Gesamtheit dessen, was in doppeltem Sinne repräsentiert, d. h. vorgestellt und als Vorstellung mit konventionellen Zeichen dargestellt werden kann. Die autonomen, von den Dingen abgekoppelten, arbiträren und konventionellen Zeichen bilden ein transparentes Instrumentarium, durch das hindurch die Welt in ihren realen, identifizierbaren Zusammenhängen sichtbar und darstellbar wird. »Dank seiner Autonomie dient das Zeichen selbstlos der Repräsentation der Dinge: in ihm treffen sich die Vorstellung des Subjektes mit dem vorgestellten Objekt und bilden, in der Kette der Repräsentationen, eine Ordnung.« (Habermas). Mit Hilfe der Repräsentation der Welt und ihrer Phänomene durch ein System transparenter Zeichen wird die Welt strukturiert und handhabbar gemacht.

Die repräsentierende Verdoppelung öffnet den Kosmos für eine neue, wissenschaftliche Durchdringung der Natur. Zwischen dem cogito und der Welt der Dinge garantiert die Repräsentation durch neutrale Zeichen die Klarheit der Evidenz. Die Kontingenz der Zeichen, die mit ihrer Arbitrarität und Autonomie deutlich wird, verweist noch nicht auf eine möglicherweise problematische Opazität, d. h. man verdächtigt sie noch nicht eines metaphorischen Charakters, historischer Zufälligkeit und kultureller Beschränkungen. Dieses naive Vertrauen in das System und das Medium der Repräsentation lässt sich erklären. In der klassischen episteme der Repräsentation kommt diese selbst nicht in den Blick, sie wird in ihrer Funktion nicht kritisch reflektiert. Der Akt der Repräsentation und das Subjekt dieses Aktes bleiben innerhalb eines blinden Fleckes verborgen, dem sich erst die Moderne mit ihren subjekt- und bewusstseinsphilosophischen Reflexionen über die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis zuwenden wird. Dies ist dann der Sprung von Descartes zu Kant. Die Problematik, oder, wenn man so will, die Krise der Repräsentation, die ihrerseits den neuerlichen Umbruch zur Moderne vorbereiten hilft, sieht Michel Foucault nun auf besonders schlagende Weise in Velásquez Bild dargestellt.

Foucault und Velásquez

 

Um ihm darin in groben Zügen folgen zu können, muss man seine Grundannahmen der Beobachtung akzeptieren, die ich schon beiläufig erwähnt habe. Für Foucault ist es eindeutig, dass wir, die anonymen und stetig wechselnden, zufälligen Betrachter es sind, die der gemalte Maler im Bild und aus dem Bild heraus fixiert. Er bannt uns dadurch auf den Platz des Königs, den er im Begriff ist, zu porträtieren und der sich dort befinden müsste, wo wir uns momentan aufhalten. Während wir das Bild als Objekt betrachten, werden wir unsererseits vom Subjekt des Malers beobachtet und zum Objekt gemacht, das wir daraufhin mit den Augen jenes objektivierten Subjektes ansehen, das den Blick des Malers repräsentiert, und so weiter, die ganze Dynamik der reziproken Inversionen, über die schon gesprochen wurde. Das Bild zwingt uns praktisch dazu, unseren Blick dreifach aufzuspalten: wir schauen auf das Bild einmal als Betrachter, dann als zu malendes Modell, als der König gewissermaßen, und schließlich als der Maler, der eben dieses Bild zu malen im Begriff ist. Mit sanfter Gewalt in diese Dispersion der Perspektiven gedrängt, werden wir einbezogen in die ganze Kette der Repräsentation: Träger der Repräsentation (Rückseite der Leinwand), ihre Mittel (Pinsel, Palette), Autor der Repräsentation (der Maler), repräsentierte Repräsentationen (der Spiegel, die Gemälde an der Wand), repräsentierte Phänomene als Subjekt-Objekt der Repräsentation (die Figuren und wir) sowie repräsentierte Beobachter der Repräsentation (der Mann in der Türöffnung).

Die Pointe liegt für Foucault nun darin, dass sich zwar die ganze Fülle der Repräsentation, ihr Sichtbares und Unsichtbares, ihr Gesehenes, Gespiegeltes und Gemaltes vor uns ausbreitet, der klassische Bildraum aber an seine unübersteigbaren Schranken stößt, wo es darum geht, den eigentlichen Akt der Repräsentation selbst darzustellen. Wir sehen den Maler nur, weil er gerade nicht malt. Sobald er seine Tätigkeit wieder aufnimmt, wird er hinter der Repräsentation verschwinden und unseren Blicken entzogen sein. Von hier aus gesehen offenbaren sich in der Kette der Repräsentation signifikante Lücken, Undarstellbares, Abwesenheiten.

»Foucault konstruiert zwei Reihen von Abwesenheiten. Dem dargestellten Maler fehlt sein Modell, das außerhalb des Bildrandes stehende Königspaar; diesem wiederum ist der Blick auf sein im Entstehen begriffenes Bild verwehrt – es sieht die Leinwand nur von hinten; dem Zuschauer schließlich fehlt das Zentrum der Szene, eben das Modell stehende Paar, auf das ihn die Blicke des Malers und der Hofdamen bloß verweisen. Noch entlarvender als die Abwesenheit der vorgestellten Objekte ist die der vorstellenden Subjekte, nämlich die dreifache Abwesenheit des Malers, des Modells und des Zuschauers, der, vor dem Bild postiert, die Perspektive der beiden anderen einnimmt. Der Maler, Velásquez, taucht zwar im Bildraum auf, aber dargestellt wird er eben gerade nicht im Akt des Malens – man sieht ihn während einer Malpause und weiß, daß er hinter der Leinwand verschwinden wird, sobald er seine Arbeit wieder aufnimmt. Die Gesichter der Modelle sind zwar unscharf in einem Spiegelbild zu erkennen, aber während des Aktes der Abbildung sind sie nicht direkt zu beobachten. Ebensowenig ist schließlich der Akt des Zuschauens repräsentiert – der gemalte Zuschauer, der von rechts hinten in den Bildraum eintritt, kann diese Funktion nicht übernehmen.« (Zusammenfassung von Jürgen Habermas, »Der philosophische Diskurs der Moderne«, Frankfurt/M. 1988, S. 305f)

Diese Sequenz der Defizite oder Abwesenheiten ist für Foucault verräterisch. Sie lässt freiwillig oder unfreiwillig die verzweifelte Begrenztheit der Repräsentation sehen, die prinzipiell unfähig ist, sich selbstreflexiv in die Repräsentation einzubeziehen, d. h. gleichzeitig zu repräsentieren und den Akt der Repräsentation sowie denjenigen zur Darstellung zu bringen, dem die Repräsentation gilt, den Souverän oder die Macht.

Die Entdeckung des modernen Subjekts

 

Foucault überträgt hier seine philosophischen Kategorien auf die ästhetischen, die das Bild von Velásquez regieren und zeichnet in dieses Bild ein anderes, nämlich das der epistemologischen Krise, die zum Aufbruch der Moderne und zur Erfindung des Subjektes führen wird. Nur die Entdeckung der Figur des »Menschen« als des beobachteten Beobachters kann Abhilfe bringen. An diesem Punkt wird Foucault dann, in langen, gelehrten und und glanzvollen Analysen der Entwicklung von Biologie, Ökonomie und Grammatik im 18. Jahrhundert, die Geburt der modernen Humanwissenschaften ansetzen. Lassen wir ihn mit den Schlußzeilen seiner »Las Meniñas«-Interpretation einmal selbst zu Wort kommen:

»Um die Szene herum sind die Zeichen und die sukzessiven Zeichen der Repräsentation angebracht, aber die doppelte Beziehung der Repräsentation zu ihrem Modell und ihrem Souverän, zu ihrem Autor wie zu dem, dem man sie bietet, diese Beziehung ist notwendig unterbrochen. Nie kann sie ohne Rest präsent sein, selbst nicht in einer Repräsentation, die sich selbst als Schauspiel gibt. In der Tiefe, die die Leinwand durchquert und sie fiktiv aushöhlt, sie in den Raum vor sich selbst projiziert, ist es nicht möglich, daß das reine Glück des Bildes jemals in vollem Licht den Meister bietet, der repräsentiert, und den Souverän, den man repräsentiert.

Vielleicht gibt es in diesem Bild von Velásquez gewissermaßen die Repräsentation der klassischen Repräsentation und die Definition des Raumes, den sie eröffnet. Sie unternimmt in der Tat, sich darin in all ihren Elementen zu repräsentieren, mit ihren Bildern, den Blicken, denen sie sich anbietet, den Gesichtern, die sie sichtbar macht, den Gesten, die die Repräsentation entstehen lassen. Aber darin, in dieser Dispersion, die sie auffängt und ebenso ausbreitet, ist eine essentielle  Leere gebieterisch von allen Seiten angezeigt: das notwendige Verschwinden dessen, was sie begründet, – desjenigen, dem sie ähnelt, und desjenigen, in den Augen dessen sie nichts als Ähnlichkeit ist. Dieses Sujet selbst, das gleichzeitig Subjekt ist, ist ausgelassen worden. Und endlich befreit von dieser Beziehung, die sie ankettete, kann die Repräsentation sich als reine Repräsentation geben.«

Was sich hier vorbereitet und im Bild von Velásquez zugleich illustriert und realisiert ist, als wäre es ein historisches Schlüsseldokument eben dieses Umbruchs, ist die Notwendigkeit, das Erkenntnissubjekt, den Menschen, jenes »X« auf dem Platz des Königs, zu identifizieren und in das Spiel einzuführen. In den letzten Abschnitten seines Buches kommt Foucault unter dem Titel »Der Platz des Königs« auf diese notwendige Revolution der Erkenntnistheorie und der Geschichte der Wissenschaften zurück.

»Für wen im klassischen Denken die Repräsentation existiert und wer sich selbst in ihr repräsentiert, sich als Bild oder Reflex erkennt, alle überkreuzten Fäden der »Repräsentation als Bild« verknüpft – der wird sich darin nie selbst präsent finden. Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht […], …es gab kein erkenntnistheoretisches Bewußtsein vom Menschen als solchem. Die klassische episteme gliedert sich nach Linien, die in keiner Weise ein spezifisches und eigenes Gebiet des Menschen isolieren. […] Der Mensch als dichte und ursprüngliche Realität, als schwieriges Objekt und souveränes Subjekt jeder möglichen Erkenntnis findet darin keinen Platz. […] Die wesentliche Folge aber ist, daß die klassische Sprache als gemeinsamer Diskurs der Repräsentation und der Sachen, als Ort, an dem Natur und menschliche Natur sich überkreuzen, absolut etwas ausschließt, das man als »Wissenschaft vom Menschen« bezeichnen könnte.«

Die gewaltige Anstrengung an Scharfsinn und Gelehrsamkeit, die Foucault in »Die Ordnung der Dinge« aufwendet, wird sich in der Aufgabe konzentrieren, die Umbrüche und diskursiven Diskontinuitäten in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften nachzuzeichnen, als deren Ergebnis das Konzept des Menschen, die Idee des Subjekts und ihrem Gefolge die modernen Humanwissenschaften entstanden.

Der Platz des Königs – eine Leerstelle?

Diesen Weg können wir hier nicht verfolgen. Die Pointe aber ist brisant und hat Foucault in die Position des am heftigsten umstrittenen und bekämpften Philosophen des ausgehenden 20. Jahrhunderts katapultiert. Foucault wird am Ende seines Untersuchungsgangs prophezeien, daß auch diese moderne episteme aufgrund der ihr innewohnenden Paradoxien und Antinomien zum Untergang verurteilt ist; er hoffte dabei – zu Beginn der 60er Jahre – auf neue strukturale Wissenschaften wie die Linguistik, die Psychoanalyse und die Ethnologie, in denen das Konzept des Menschen als Zentrum der Erkenntnis und Selbsterkenntnis überflüssig geworden ist. In ihrer strukturalistischen Version organisieren diese Wissenschaften ihre Erkenntnisse nicht mehr um das Erkenntnissubjekt und den Menschen herum, sondern analysieren die anonymen, subjektlosen Strukturen der Sprache, der Verwandtschaftssysteme und des Unbewussten, die auf ihre Weise, selbst sinnlos, allen Sinn generieren und hervorbringen. Aufgelöst wäre dadurch die epistemologische Paradoxie, dass das erkennende Subjekt als transzendentale Quelle und strukturbedingendes Produktionsmittel der Erkenntnis, zugleich das empirische Objekt eben dieser Erkenntnis sein will. Die Paradoxie löste sich durch die Dezentrierung und Abdankung des Subjekts, des Konzepts des Menschen als selbstbeobachtender Beobachter, das abgelöst würde von einer transversalen Vernunft, die den blinden Fleck der Repräsentation überwunden und hinter sich gelassen hätte. Diese Prophezeiung ist dann in der Folge bis zur Unsäglichkeit verzerrt und polemisch missverstanden worden. Das Buch schließt nämlich mit den Worten:

»Wenn die Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.«

Manchmal haben internationale philosophische Debatten, das wissen Sie vielleicht nicht oder mögen es aus Respekt vor der Philosophie nicht glauben, das Niveau von Kneipen-Krakeelereien. Dieses Wort Foucaults hat man vonseiten gewisser deutscher Polemiker tatsächlich allen Ernstes so verstehen wollen, als rede Foucault einer verwüsteten Welt das Wort, in welcher der Mensch als Gattung ausgerottet sein würde! »Unmensch! Nihilist! Faschist!« wurde dem wissenschaftstheoretischen Fortschritts-Träumer hinterher gerufen, der lediglich darauf hinweisen wollte, dass auch unsere episteme, das strukturale Leitsystem unserer Welterkenntnis  einem historischen Wandel unterliegt!

Malerei und Philosophie

 

Philosophie, Malerei und Aspekte ihrer Beziehung untereinander waren Thema der letzten Vorträge und auch des heutigen. Das Gebiet, so viel ließ sich zeigen, ist durchaus heterogen und zeigt ganz disparate Züge des Verstehens und Missverstehens, der Inspiration, der Auseinandersetzung und des Austausches. Zunächst ist es auffällig, wie sehr sich die französische Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch hierin von der deutschen unterscheidet. Seit Heidegger hat sich meines Wissens kein einziger erstrangiger deutscher Philosoph mehr intensiv und zu philosophischen Zwecken mit der bildenden Kunst befasst. In Frankreich ist das anders. Hier gibt es kaum einen Philosophen oder Denker der letzten fünf Jahrzehnte, der sich nicht wenigstens irgendwann einmal der künstlerischen Erfahrung geöffnet und ihr Texte gewidmet hat. Sartre schrieb Kluges über Giacometti und Wols, Merleau-Ponty ließ sich in seiner Spätphilosophie intensiv von Cézanne inspirieren; Bataille schrieb über André Masson, Roland Barthes über Cy Twombly, Lyotard über Barnett Newmann; Derrida widmete sich der »Wahrheit in der Malerei«, Lacan analysierte den Blick und das Begehren im Bild; Gilles Deleuze philosophierte entlang der Werke Francis Bacons, Foucault verfasste ein Büchlein über Manet, eine zeichentheoretische Studie über Bilder Magrittes und den Text über »Las Meniñas«. Intentionen und Resultate waren sehr unterschiedlich.

Kaum einer der Autoren hatte eine philosophische Ästhetik im Sinn und plante auf ihrer Grundlage eine »philosophische Entmündigung der Kunst« (A. C. Danto). In einigen Werken kommt es zu einer sehr produktiven Synthese phänomenologischer Bildhermeneutik und moderner Metaphysik; in anderen Fällen wurden Möglichkeiten ausgemessen, die autonome Sprache der Bilder in die literarische Schriftsprache zu übertragen; manche Autoren entwickelten semiologische und zeichentheoretische Thesen entlang von Bildern, wieder andere spürten dem spezifisch philosophischen Gehalt in der aktuellen Kunst nach. Wo auf dem Gebiet dieser Begegnungen ist Foucault einzuordnen?

Sein Text über Velásquez erschien zuerst separat im »Mercure de France«, bevor er, leicht gekürzt, an den Beginn von »Die Ordnung der Dinge« gestellt wurde. Dieser kleine Essay hat viel Aufsehen erregt und zur Berühmtheit des Buches beim breiteren Publikum beträchtlich beigetragen. Foucaults Stil ist, was die Übersetzungen nur sehr unvollkommen nachbilden und woran sie naturgemäß oft scheiterten, eine eigentümliche Melange aus gelehrter philosophischer Terminologie, poetischem Metaphernreichtum und dem etwas düsteren, eleganten Prunk ausschweifender Rhetorik, die zwischen dem radical chic des militanten Fundamentalkritikers und dem teils ironischen, teils eitlen Pomp ehrwürdiger französischer Akademie-Gelehrter zu changieren versteht. Dieser Stil erweckt auf eine Weise, die oft nachgeahmt und selten erreicht oder übertroffen wurde, den Eindruck ungewöhnlicher Präzision und höchster Luzidität. Hierzu tragen Passagen einer gleichsam vibrierenden, herben Dunkelheit und Verschwommenheit kontrastierend bei, in denen der Text durch Ambiguität und Polyvalenz der metaphorischen Formulierungen eine Weite des Ausblicks suggeriert, die den Durchschnittsleser befürchten lassen, an einer unbehandelten Kurzsichtigkeit zu leiden.

In seinen besten Passagen – die aber vielleicht nur erleuchtete Momente der Übersetzer sind, die ansonsten nicht Schritt halten – liest man Foucaults opulente, weit ausschwingende Perioden wie Literatur, wie Musil, Proust oder Valéry. Es lässt sich aus der Distanz der Zeiten nicht leugnen, dass der rhetorische Prunk zum Ruhm von Foucaults Essay über »Las Meniñas« beigetragen hat; vor allem dilettierende Kunstliebhaber und philosophische Anfänger, zu denen auch ich mich in meiner damaligen Begeisterung zählte, hielten den Atem an angesichts der vermeintlichen Akribie, der scharfsinnigen Präzision der Analyse und der eleganten Überblendung philosophischer und ästhetischer Kategorien in Foucaults Text. Zahlreiche publizierte Sonderdrucke, die von diesem Text, zumeist illustriert und kommentiert, erschienen sind, weisen darauf hin, dass ich nicht der einzige war, der den Essay zu den unerreichten Meisterstücken philosophischer und kunsthermeneutischer Publizistik zählte.

Das Bild in der Rhetorik

 

Heute bin ich offen gestanden nicht mehr ganz so sicher. Die Bildbeschreibung ist keineswegs so ultra-präzise, wie sie zu sein vorgibt. Foucault unterlaufen Beobachtungsfehler, die unwillkürlich fragen lassen, ob er vielleicht nur eine schlechte Schwarz-Weiß-Reproduktion vorliegen hatte. Er missdeutet Blickrichtungen, schätzt Entfernungen falsch ein und dichtet gar der Zwergin Maribárbola, deren offenbar gelähmter rechter Arm schlaff herabhängt, vor der Brust gefaltete Hände an. Viele Bezüge entgehen ihm; den historischen Kontext, etwa den erbitterten ästhetisch-politischen Kampf um die Anerkennung der Malerei als zu den artes liberales gehörig, übersieht der brillante Historiker genauso wie die Fülle vergleichbarer Experimente mit Spiegeln, Projektionen und Inversionen von Bildraum und Betrachterwirklichkeit, welche die Kunstgeschichte in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts aufweist. All dies muss wohl zugegeben werden, auch wenn Foucault nicht mit der Verwegenheit Heideggers (in Sachen van Gogh und seiner vermeintlichen »Bauernschuhe«) offenkundige Sachfremdheiten in das Bild hineinliest. All diese Bedenklichkeiten, die allerdings auch erst auffallen, wenn man sich in die kunstwissenschaftliche und historische Literatur zu den »Hoffräulein« und Diego Velásquez einliest, sollten das Innovative und Inspirierende an Foucaults Leistung indes nicht schmälern.

Was er, meines Wissens als erster Philosoph unserer Zeit, unternimmt, ist interessant genug. Mit der Einführung eines Bildes, eines Werks der bildenden Kunst, in die Rhetorik einer philosophisch(-historischen) Abhandlung fügt er dem Werkzeugkasten philosophischer Diskursivität ein völlig neues Instrument hinzu. Mag sein, dass in seiner Nachfolge solche Versuche besser gelingen werden – Foucault bleibt der erste, der die behauptete »Wahrheit der Kunst« ernst nimmt, indem er innerhalb der theoretischen Argumentation ein stumm-beredtes Kunstwerk zum Sprechen bringt und es bei der Produktion von Wahrheitseffekten zulässt. Welchen Status besitzt – innerhalb einer philosophischen Abhandlung – die stumme Aussage eines Bildes? Ein Bild ist kein Argument, kein Beweis und kein Urteil. Es ist aber auch mehr als das berüchtigte, von Laien geliebte und von Fach-Philosophen beargwöhnte »Beispiel«. Es fügt sich dem Text nicht bloß als beiherspielende Illustration eines vorgängigen Argumentationsstranges an, es ist keine »Untermalung«. Bei Foucault gewinnt das gemalte Bild als rhetorische Figur eine heuristische Funktion. Es schließt eine theoretische Situation auf und visualisiert in seiner Vieldeutigkeit und seinem Bezugsreichtum ein überaus komplexes diskursives Gefüge. In den Passagen, in denen der Philosoph das Bild sprechen lässt, räumt er den Platz des monologisierenden Autoren – auch ein Platz des Königs! – zugunsten einer angedeuteten Polyphonie. Er hybridisiert gleichsam den traditionellen, klassischen philosophischen Diskurs, in dem er das polysemische Gemurmel der Bildbezüge hineinkreuzt und mit der Lust des furchtlosen Experimentators abwartet, was bei diesem Versuch herauskommt.

Man unterschätze den Mut nicht, der hierzu erforderlich ist. Was glauben Sie, warum philosophische Bücher so selten bebildert sind! Nein, im Ernst: Mut ist unabdingbar, weil Bilder nicht berechenbar sind. Die Gefahr geht nicht so sehr von dem Umstand aus, dass ein Philosoph zumeist auch nur ein dilettierender Kunstliebhaber ist, sondern von der Autonomie die Bilder. Einmal durch intensive, hingabevolle Beobachtung aufgeschlossen, beginnen sie zu murmeln und zu plappern und, eigensinnig wie sie als autonome Kunstwerke nun einmal sind, reden sie, wie es ihnen zukommt und eingegeben ist; wird der bevormundende hermeneutische Interpretationsfuror des Autoren zu groß, behaupten sie störrisch ihre Autonomie, schütteln die Übergriffe ab und reden dem écrivain philosophique in seine Theorie hinein, unterminieren sie womöglich und bringen sie zum Wanken, anstatt sie zu stützen.

Das ist eine hochinteressante Erfahrung, die sich, ich glaube, man wird das sagen dürfen, im Falle Foucaults und der »Hoffräulein« in der Tat machen lässt. Am Ende, so zeigen aktuellere Nachuntersuchungen, eignet sich das Bild von Velásquez nicht einmal dann, wenn man die Beobachtungen Foucaults akzeptiert, dazu, seine Theorie wirklich zu belegen oder gar zu beweisen. [vgl. R, Marx, in: »Velásquez  Las Meninas«, Frankfurt/M. 1999] Aber solche Unwägbarkeiten machen die Begegnung zwischen moderner Philosophie und Malerei gerade so spannend. Es ist ein Récontre mit offenem Ausgang, eine abenteuerliche Affäre, von der zu hoffen ist, dass sie noch lange nicht beendet ist. Zwischen einer Philosophie, die ihren Augen nicht traut, und der Malerei, die auf der Autonomie ihrer Rätsel besteht, lassen sich noch viele funkelnde Begegnungen denken. Vielleicht haben Sie selbst ein wenig Lust bekommen, die alten Kunstbücher einmal wieder aus dem Schrank zu holen und mit neuen, »philosophischen« Augen zu betrachten. Es könnte sein, dass »Langeweile« für Sie auf unbestimmte Zeit zum Fremdwort wird!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Literaturhinweis

Eine sehr preiswerte, schöne Ausgabe der Werke von Velasquez mit Kommentar ist:

José Lopez-Rey, »Velásquez – Maler der Maler · Sämtliche Werke«, Köln 1997, Taschen-Verlag

Den Text Foucaults mit einer sehr lehrreichen, kritischen (ziemlich vernichtenden) kunstwissenschaftlichen Kommentierung durch R. Marx gibt das illustrierte Insel-Taschenbuch:

»Velásquez · Las Meninas«, Frankfurt 1999, Insel-Verlag

Foucaults Werk zur Denkgeschichte und Entstehung der modernen Humanwissenschaften gibt es als Taschenbuch:

Michel Foucault, »Die Ordnung der Dinge«, Frankfurt/M. 1974ff, Suhrkamp-Verlag (stw)

Eine Reihe der spannendsten Aufsätze zu den Geheimnissen von »Las Meniñas« sammelt die hervorragende illustrierte Anthologie:

Thierry Greub (Hg.), »Las Meninas im Spiegel der Deutungen · Eine Einführung in die Methoden der Kunstgeschichte«, Berlin 2001, Reimer-Verlag [Dieser Band enthält als einziger u. a. die ungekürzte Fassung von Foucaults Text aus dem »Mercure de France«], mit 24,95 Euro sehr preiswert!

Für den kunstgeschichtlichen Zusammenhang selbstreflexiver Malerei besonders aufschlussreich ist:

Victor I. Stoichita, »Das selbstbewusste Bild · Vom Ursprung der Metamalerei«, München 1998, Fink-Verlag

Interessante Beispiele philosophischer Bildhermeneutik (auch über »Las Meniñas«) gibt in sehr verständlicher, anregender Art:

Reinhard Brandt (Hg.), »Meisterwerke der Malerei · Von Rogier van der Weyden bis Andy Warhol«, Leipzig 2001, Reclam.

Was man sagen darf

4. Mai 2011

 

Über Sprachphilosophie, political correctness

und den Öffentlichen Diskurs

 Meine Damen und Herren,

zu folgendem Vortrag hatte ich schon im letzten Jahr die Idee, als im medialen Wasserglas der Sturm der sog. Sarrazin-Debatte tobte. Die Begeisterung der VHS-Leitung über meinen Vorschlag hielt sich damals in Grenzen; da ich schon einmal auffällig geworden war, keinen ungezügelten Enthusiasmus für den Islam zu hegen, befürchtete man irgendwie diffus Konfliktträchtiges von mir und bot fürsorglicherweise an, mir doch zwecks Harmonisierung als „Ko-Referentin“ eine vorbildlich integrierte Journalistin mit türkischem Migrationshintergrund zur Seite zu stellen. Zum Glück gab es dann Terminschwierigkeiten… Dabei hatte ich überhaupt nicht vor, über Fragen der Integrationspolitik zu sprechen, die ich ohnehin für zu kompliziert halte, um sie in anderthalb Stunden sinnvoll zu erörtern. Ich wollte damals vielmehr und werde nun heute ein paar Bemerkungen darüber beisteuern, „was man sagen darf“, was man nicht sagen darf und wer – oder was – darüber befindet; außerdem darüber, was Sprechakte tun, wenn sie sich ereignen, unter welchen Bedingungen sie diskursive Macht entfalten; sowie über das Subjekt, die Sprache, die Performativität von Sprechakten, die Macht und die Ordnung des öffentlichen, medial vermittelten Diskurses im Allgemeinen – kurzum, über Sprachphilosophie und Politik. Das klingt, zugegeben, auf den ersten Blick recht abstrakt und trocken.

Ich könnte die Erwartung natürlich etwas anschärfen: Es böte sich die sensationelle Ankündigung an, ich würde in diesem Vortrag aufs Ungeheuerlichste Minderheiten oder ganze gesellschaftliche Gruppen beleidigen, Juden, Türken, Muslime, Schwule, Frauen, Schwarze, Behinderte, Kinder und Unterschichtler, nur zum Beispiel. Außerdem würde ich rücksichtslos von „Negerküssen“ und „Zigeunerschnitzeln“ sprechen, vor der „Gelben Gefahr“ oder vor „Kopftuchmädchen“ warnen, über die genetische oder genitale Ausstattung von Schwarzem schwadronieren, den türkischen Obst- und Gemüsehandel verunglimpfen, Blondinen verhöhnen und schließlich noch darlegen, warum ich Kinder, Hunde und kleine Eisbären hasse.

 Für einen Philosophie-Vortrag wäre das immerhin ein rasanter Anfang. Aber keine Sorge, das alles mache ich natürlich nicht; nicht weil ich damit Tabus verletzen würde – der gute alte Tabubruch ist ja in der Kulturszene heute hoch angesehen –, sondern weil dies ein Plagiat Guttenbergschen Ausmaßes wäre. Das alles tut nämlich bereits, mit wachsendem Erfolg auf deutschen Kleinkunstbühnen, Serdar Somuncu. Kennen Sie Serdar Somuncu? Den „Hassprediger“, wie er sich nennt? Somuncu ist deutscher Staatsbürger mit türkischen Eltern, also ein Deutsch-Kanake, wie er sagt. Er darf das ja sagen, so wie er aussieht, mit seiner Türsteher-Visage und seinem rasierten Glatzkopf. Aber nein, im Ernst: Serdar Somuncu ist für mich der derzeit interessanteste und aufregendste, wahrscheinlich auch einzige Vertreter eines neuen politischen Kabaretts, das, nicht trotz, sondern wegen der auf der Bühne dargebotenen Beleidigungen, Flüche und Obszönitäten serienweise philosophische Fragen aufwirft, die nicht nur seine Rezitation, sondern auch die Reaktion des begeistert applaudierenden Publikums betreffen.

 Somuncu wurde bekannt, als er in über 1500 Auftritten, vor allem im Osten Deutschlands, Lesungen aus Hitlers „Mein Kampf“ veranstaltete. Schon dieses Programm war interessant und berührte die Fragen, um die es heute geht, Fragen der Performativität, des Zitates und der Re-Zitation, oder wie manche Autoren auch sagen: der Re-signifizierung. Hitlers unsägliche Schwarte ist in Deutschland verboten; aus ihr vorzulesen aber offenbar nicht. Seltsam genug. Aber Somuncu las ja auch nicht, um Werbung für den Hitlerismus zu machen; er schaffte es im Gegenteil durch bloßen Vortrag, also durch kunstreiche Zitierung bzw. Re-Zitation, die bodenlose Geistesverwahrlosung und dumpf-aggressive Debilität der Hitlerschen Tiraden transparent zu machen und der Lächerlichkeit preiszugeben. Das beste an diesen Veranstaltungen waren die Auftritte der Neo-Nazis, die sich regelmäßig vom diskursiven Dilemma lähmen ließen – dass man ihren verehrten Führer durch bloße Rezitation seiner Phrasen demaskieren konnte, war ihnen nicht geheuer. Sie wollten gern protestieren, nur – wogegen jetzt eigentlich? „Das darf man so aber nicht sagen!“ jammerten sie hilflos, worauf Somuncu maliziös zu antworten pflegte: „Dann darf man das so aber auch nicht schreiben…“

Wenn Somuncu, der als Privatmann ein leiser, nachdenklicher und kluger Mann ist, in seinem neuen Programm „Hassprediger – Ein demagogischer Blindtest“ unter der Maxime „Alle Minderheiten haben ein Recht auf Diskriminierung“ eben dieselben „flächendeckend beleidigt“, klischeehafte Vorurteile über sie re-zitiert und dabei keine sexistische Zote oder rassistische Invektive auslässt, geschieht etwas Merkwürdiges: Das Publikum lacht und applaudiert. Das ist insofern merkwürdig, als es zumeist aus dem gleichen linksbürgerlich-liberalen Lager stammt, dass sich beispielsweise über Sarrazins Thesen eminent empört hat. Weswegen Somuncu nach einer tabubrechenden Zoten-Salve gern innehält und fragt: „Was finden Sie eigentlich schlimmer, meine Witze, oder dass Sie darüber lachen?“ –

Das zugleich offenbar irgendwie befreiende wie kathartische Gelächter, das Somuncu auslöst, und der Applaus dafür, Unsägliches und Unsagbares auszusprechen, betrifft sämtlich Äußerungen, die man in der Öffentlichkeit „eigentlich“ nicht sagen darf, jedenfalls nicht, wenn man nicht als homophober Sexist, Rassist, Faschist, Antisemit und Frauenhasser abgestempelt und sozial geächtet werden will. Somuncu ist durch den Kontext seiner satirischen Bühnenshow geschützt… Seine üblen Sprüche macht er nicht eigentlich, er zitiert sie, führt sie vor, macht sie dadurch transparent und kenntlich und sensibilisiert das Publikum für das Unausgesprochene im eigenen Denken. Seine rhetorische Strategie ist gewagt, geht aber auf: Indem er „flächendeckend beleidigt“, verliert die zitierte Beleidigung ihre Kraft, eine einzelne Gruppe oder Minderheit zu diskriminieren. Wer alle und jeden „diskriminiert“, führt die Diskriminierung ad absurdum. Freilich, wenn man sein Publikum beobachtet, registriert man deutlich auch eine befreiende Erleichterung, dass da jemand sich „traut“, Dinge zu sagen, „die man nicht sagen darf“. Diese Freude ähnelt der von Kindern, die sich an „schmutzigen Wörtern“ ergötzen, weil die Überschreitungslust einfach größer ist als die Furcht vor den Konsequenzen des Tabu-Bruchs. Das gibt natürlich zu denken. Aber,

meine Damen und Herren,

was hat es eigentlich mit Redetabus und Sprach-Verboten auf sich? Wo kommen sie her, wer entscheidet über sie, und warum löst ihre Überschreitung oft so heftige Emotionen aus? Wenn wir uns diesem Thema zuwenden, stellen wir zunächst fest, dass Sprach-Tabus offenbar in ständigem historischen Wandel begriffen sind. Sprache transportiert geschichtliche Erfahrung. In der Sprache der Weißen hießen die amerikanischen Nachkommen afrikanischer Sklaven zunächst Nigger, dann Negroes, dann Blacks, schließlich coloured people und derzeit African Americans. Nigger wiederum ist vom verächtlichen Schimpfwort zu einem Begriff geworden, den afro-amerikanische Kulturschaffende, Rapper etwa, ihrerseits zur ironisch-stolzen Selbstbezeichnung verwenden. Sie haben das ursprüngliche Schimpfwort re-signifiziert, d. h. dem Zeichen einen neuen Kontext und damit eine neue Bedeutung gegeben. Apropos schwarze Musik: Kürzlich stieß ich beim Nobelpreisträger Hermann Hesse auf eine Textstelle, ich glaube von 1929, in der er in entwaffnender Naivität der Musik einer Jazz-Band „ungekünstelte Negerhaftigkeit“ bescheinigte. Das würde heute als Kompliment im Feuilleton wohl nicht mehr durchgehen, ohne einen Sturm der Entrüstung auszulösen. Wir empfänden das als politisch unkorrekt, ja rassistisch. Es handelt sich da um Dinge, die man „so nicht sagen darf“.

Die gesellschaftlichen Konventionen, die verbieten, bestimmte Wörter oder Begriffe zu verwenden, sind, so scheint mir, in ihrer Massivität und Intensität relativ neu. Natürlich konnte man auch in früheren Zeiten nicht „alles“ sagen, zumindest in der Öffentlichkeit nicht, dafür sorgten schon staatliche oder kirchliche Zensurbehörden. Mit der Aufklärung wuchs dann jedoch die allgemeine Überzeugung, Rede- und Schreibverbote seien ein Hemmnis für die freie Entfaltung einer modernen Gesellschaft, die auf offene, unzensierte Debatten als Lebenselixier angewiesen ist. Die demokratischen Revolutionen in Europa machten daher aus guten Gründen, im Gefolge der allgemeinen Menschenrechte, auch die unumschränkte Meinungs- und Redefreiheit zu einem hohen, unveräußerlichen Rechtsgut und Verfassungsgrundsatz, der die offene Gesellschaft dazu zwingt, auch Aussagen, die „wir“ unsäglich oder empörend finden, zu ertragen. Wir dürfen sie bekämpfen, aber nicht unterdrücken.

 Sprachkritik im Namen „politischer Korrektheit“

 In den letzten vier oder fünf Jahrzehnten ist jedoch in der westlichen Welt eine Bewegung stark, wenn nicht sogar dominant und in den Medien konsensuell geworden, welche die Redefreiheit keineswegs mehr unumschränkt gelten lassen will. Bestimmte Wörter, Redensarten und Bezeichnungen gerieten in Verruf, man darf sie nicht mehr sagen oder verwenden, ohne sich scharfe Zurechtweisungen zuzuziehen. Eine Liste neuer „schmutziger Wörter“ ist entstanden, wobei im Dunkel bleibt, wer diese Liste eigentlich führt und ihre Zusammensetzung bestimmt. Wie kam es dazu? – Im Umfeld der US-amerikanischen linken Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre entstand eine Form von anti-rassistischer, anti-sexistischer und feministischer Sprachkritik am öffentlichen Diskurs, die sich sehr bald zu einer selbst- und machtbewussten Sprachpolitik auswuchs. Bezeichnend ist das Schicksal des Wortes, mit dem diese sprachkritische Bewegung, die von kalifornischen Universitäten ausging, sich selbst, halbwegs selbstironisch, bezeichnete, nämlich als Bewegung der „political correctness“ oder kurz: „pc“. Inzwischen mag aber die Linke den Ausdruck längst nicht mehr, weil die Konservativen ihn aufgegriffen und sein Verständnis und Gebrauch  kritisiert haben, weswegen wiederum die Linken ihn nun als diffamierenden ultra-rechten Kampfbegriff denunzieren, – mit anderen Worten, der Begriff der political correctness ist politisch nicht mehr korrekt. Wenn Sie ihn heute verwenden, signalisieren Sie damit freiwillig oder unfreiwillig, „in der rechten Ecke zu stehen“, auch wenn Sie sich dort gar nicht hingehörig fühlen.

 Ähnlich die Bedeutung Verschiebendes ist dem Begriff der Diskriminierung widerfahren. Diskriminieren hieß im Ursprung recht sachlich „unterscheiden“, was sich im Bedeutungskern des Wortes erhalten hat – Diskriminierungsgegner wenden sich in der Tat zumeist aus egalitär-demokratischer Motivation gegen Unterscheidungen gesellschaftlicher Gruppen nach ethnischen, rassischen oder geschlechtlichen Kriterien. Nun könnte man sich naiv stellen und darauf verweisen, dass „Diskriminierung“, also begriffliche Unterscheidung, doch ein Wesensmerkmal der Sprache sei und sich wohl kaum vermeiden ließe. Ist die Fähigkeit zur differenzierenden Beschreibung nicht sogar ein Merkmal auch emanzipatorischer Kritik? George Orwell hat in seiner düsteren Dystopie „1984“ durchgespielt, wie eine durch diktatorische Eingriffe gezielt verarmte und ihres Differenzierungsvermögens beraubte Sprache („Neusprech“) die Bevölkerung buchstäblich entmündigt.

 Andererseits: Durch Benennung unterscheiden – ein in menschlichen, sprach-basierten Gesellschaften unumgänglicher Vorgang – ist niemals harmlos oder wertneutral. Etwas oder jemanden zu benennen ist ein machtvoller und tendenziell gefahrenreicher sozialer Akt. Diskriminieren bedeutet – in bestimmten Kontexten – bekanntlich auch ausgrenzen, verächtlich machen, mit stereotypen Eigenschaften belegen, entrechten, von gesellschaftlicher Teilhabe ausschließen. Vordergründig liegt dies daran, dass Worte ihre Macht nicht als bloße Zeichen entfalten, sondern durch die stillschweigend mitgedachten Bedeutungen, die Konnotationen, die wiederum mit gesellschaftlichen Machtpositionen verknüpft sind. Wörter transportieren soziale Sichtweisen, die ihre eigene reale Geschichte haben. Es macht einen Unterschied, ob ich jemanden als Krüppel, Behinderten oder Menschen-mit-Behinderung bezeichne; dass aus Fremd- oder Gastarbeitern und Asylanten ausländische Mitbürger, dann Migranten und schließlich Deutsche-mit-Migrationshintergrund wurden, spiegelt unterschiedliche politische Perspektiven eines zeitgeschichtlichen Prozesses wieder. Um aufzuhellen, welchen Hintergrund wir hier in Betracht ziehen müssen, bin ich gezwungen, etwas auszuholen.

 Austins Theorie der Sprechakte

Dass die Sensibilisierung für die Macht der sprachlichen Benennung gerade von den Vereinigten Staaten ausging, hat historisch-politische und gesellschaftliche Gründe, entspringt aber auch der besonderen Stellung, welche die analytische Sprachphilosophie im anglo-amerikanischen Sprachraum einnimmt. Die Wurzel der politischen Sprachkritik findet sich bei einem eher unpolitischen Sprach-Philosophen, dem britischen Theoretiker John Langshaw Austin, der zu Lebzeiten wenig Schriftliches veröffentlichte, sondern eher mündlich, durch Vorlesung und Diskussion lehrte. Postum erschien 1975 ein Büchlein mit sprachlogischen Vorlesungspapieren von ihm. Es trug den Titel „How to do things with words“ (wörtlich also: „Wie man Dinge mit Worten vollbringt“ oder freier: „Wie man mit Worten handelt“). Darin wurde auf einen eigentlich simplen Sachverhalt aufmerksam gemacht, so simpel, dass er Nicht-Logikern gar nicht beachtenswert, sondern selbstverständlich erschienen war: Worte dienen nicht nur als neutrale Zeichen, die etwas über die Tatsachen der Welt aussagen bzw. diese beschreiben – Worte haben, wenn sie in bestimmten Kontexten gesprochen oder geschrieben werden, auch die Macht, Wirklichkeit herzustellen. Austin nannte so etwas mit einem Fach-Term illokutionäre Sprechakte und meinte damit sprachliche Formeln, die unmittelbar herstellen, was sie aussagen. Perlokutionär hingegen nannte er Sprechakte, die zwar nicht unmittelbar, aber doch in der Konsequenz Folgen in der realen Welt zeitigen.

 Ein klassischer illokutionärer Sprechakt wäre zum Beispiel: „Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau.“ Dieser Satz trifft keine Aussage über die Realität, er beschreibt nichts und ist, was die Logiker interessiert, weder wahr noch falsch. Er schafft vielmehr, in dem er rituell gesprochen wird, eine neue faktische Realität, in diesem Falle nämlich eine rechtmäßige Verehelichung zweier Personen. Freilich, wie jedem Kind klar ist: Der Satz funktioniert nur unter ganz bestimmten außersprachlichen, sozialen Voraussetzungen als illokutionärer Sprechakt: Wer ihn wirksam aussprechen soll, muss dazu befugt sein, die, die ihn anhören, müssen in die damit verbundene rechtliche Konvention einwilligen usw. Zu solchen illokutionären Sprechakten gehören u. a. auch Taufen, Urteile, Versprechen, Befehle, Eide und ähnliches. – Perlokutionäre Sprechakte können – vor allem wenn sie von mächtigen sozialen Sprechern verwendet werden – u. a. beleidigende, herabsetzende Bezeichnungen für eine Minderheit sein, die einen untergeordneten, inferioren gesellschaftlichen Status zementieren, und auf diese Weise real wirksam werden. Beide Formen von Sprechakten  zeigen, dass Sprache nicht im luftleeren Raum abstrakter Semantik und Grammatik, und auch nicht als Akt bloßer Kommunikation funktioniert, sondern ein pragmatisches Instrument des Handelns darstellt, eines Handelns, das sich wiederum als Akt symbolischer Interaktion in einem gesellschaftlichen Raum von Machtbeziehungen realisiert.

Insofern bezieht sich jeder gelingende illokutionäre oder perlokutionäre Sprechakt stillschweigend auf machtbasierte soziale Institutionen, ruft diese rituell und beschwörend an und hält sie dadurch auch zugleich am Leben. Wer als bestallter Richter ein Urteil „im Namen des Volkes“ spricht,  tut dies nicht aus einer persönlichen Machtvollkommenheit, sondern er ruft eine bestehende gesellschaftlich institutionalisierte Machtbeziehung auf, in diesem Falle die der staatlich sanktionierten Rechtssprechung, und in der Ausübung seiner Richterfunktion aktualisiert, realisiert und bestätigt er diese machtgestützte Konvention zugleich. – Heute nennt man solche sprachlich vermittelten Aktualisierungen oder Re-Aktualisierungen meist nicht mehr „illokutionär“ oder „perlokutionär“, sondern performativ. Das Aussprechen eines Gerichtsurteils, die Taufe eines Schiffes, die Verehelichung zweier Partner usw. sind gesellschaftliche Rituale, die durch Sprechakte bestimmte soziale Machtbeziehungen beschwören oder anrufen und damit zugleich manifestieren und realisieren.

Halten wir also fest: Performative Sprechakte haben die Macht, durch rituelle „Aufführung“ oder Re-Zitierung Wirklichkeiten hervorzubringen, zu konstituieren oder zu verfestigen. Nach Ansicht Austins, der schon 1950 verstarb, war die Menge der Sätze, die eine solche performative Gewalt besitzen, relativ beschränkt und nicht repräsentativ für die Menge der sprachlichen Aussagen insgesamt. Austin war zu sehr Sprachlogiker und zuwenig Sozialphilosoph, um zu erkennen, was bald darauf schon die Gegenwartsphilosophie aufgriff und ausweitete: Schauen wir genauer hin, so stellen wir fest, es gibt im Gegenteil nahezu keine sprachliche Aussage, die nicht auch performativen Charakter hätte, und damit nicht auch, unter gewissen Umständen und in bestimmten Kontexten, beträchtliche gesellschaftliche Macht zu entwickeln vermöchte. Eine medizinische Diagnose z. B., so sachlich und „wissenschaftlich“ sie sich geben mag, kann unter Umständen (wenn es sich etwa um AIDS, Alkoholismus oder Depression handelt) zur sozialen Stigmatisierung des Patienten führen; eine Dissertation, sagen wir über Verfassungsrecht, kann sich in den rhetorischen Talar akademischen Sprechens hüllen und sich damit selber eine Autorität verleihen, die einschüchternd wirkt und verbirgt, dass der damit erhobene Anspruch auf sozialen Status und Autorität, wie immer, und in manchen Fällen buchstäblich, nur geborgt ist. In besonders hervorstechendem Maße gilt das für das öffentliche Sprechen von Politikern, das immer performativ ist und symbolische Macht konstituiert, indem es beispielsweise Kompetenz und Sachverstand suggeriert, Sprachregelungen durchsetzt, Unerfreuliches durch Euphemismen beschönigt, Überlegenheit und Kenntnis der Zukunft verspricht usw.

Anders ausgedrückt: Im gesellschaftlichen Rahmen heißt sprechen immer auch handeln, heißt, Realität nicht nur beschreiben, sondern sie auch hervorbringen. Dies ist zunächst, wie gesagt, außerhalb des Kreises der Sprachlogiker, gar keine allzu aufregende Erkenntnis, sodass etwa der französische Soziologe Pierre Bourdieu Austin mit den Worten kommentierte: „War wirklich soviel Scharfsinn nötig um herauszufinden, dass ich zwangsläufig tue, was ich sage, wenn mein Tun im Sagen besteht?“

Nun, gewiss nicht. Dass Sprache nicht nur eine Grammatik und eine Semantik, sondern auch eine Pragmatik besitzt, war auch schon längst Gemeingut der Linguistik. Was Austin eher am Rande behandelte, rückt jedoch in den 1970er Jahren immer mehr in den Vordergrund: Der Gebrauch der Sprache, insbesondere ihr performativer, wirklichkeitssetzender Gebrauch, lässt sich nicht von den gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen trennen, innerhalb derer und mit deren Mitwirkung er funktioniert. Der Formel „Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau“ an sich haftet nichts Magisches an; griffe ich mir jetzt unter Ihnen eine Damen und einen Herren heraus, die meiner Meinung gut zueinander passen, und „verehelichte“ sie, in dem ich diese Formel aufsagte, hätte das vermutlich nur wenig reale Folgen. Anders verhält es sich, wenn symbolische Strukturen bzw. Institutionen der Gesellschaft ins Spiel kommen und Sprecher, die durch sie bevollmächtigt sind – da kann die „Magie“ der performativen Sprache beträchtliche Folgen zeitigen.

 Die Macht des Performativen

 Der mutmaßlich erste, nur vermeintlich diagnostisch-beschreibende, in Wahrheit aber  performative Satz, der anlässlich Ihrer Geburt gesprochen wurde, mag das illustrieren. Dieser Satz lautete „Es ist ein Junge!“ oder wahlweise „Es ist ein Mädchen!“ Diese folgenschwere Zuschreibung wird zumeist wenige Tage später durch die Taufe oder die standesamtliche Anmeldung besiegelt: Sie bekommen einen Eigennamen zugeschrieben, der Ihre Zugehörigkeit zu einem der beiden angeblich ausschließlich zur Wahl stehenden Geschlechter ein für allemal lebenslang festschreibt, mit allen Konsequenzen, die damit verbunden sind. Selbst wenn Sie außerordentlich frühreif wären und intellektuell ein Wunderkind – als Neugeborenes besitzen Sie kaum das Vermögen, haben aber auch gar nicht das Recht zu sagen, Sie würden diese Zugehörigkeit vorerst gern offen lassen, ähnlich wie vielleicht noch die religiöse oder ethnische. Sie werden zwangsläufig in eine Sprache hineingeboren, die nicht Ihre, sondern die der Anderen ist. Von da an werden bezeichnende Zuschreibungen Ihr Leben bestimmen.

Schon Ihrem Eigennamen wohnt die gesellschaftlich vermittelte symbolische Macht inne, Sie einer bestimmten Ordnung einzuschreiben, Ihnen einen Platz innerhalb der sozialen Ordnung zuzuweisen und Sie identifikatorisch dingfest zu machen. Lassen wir für einen Moment beiseite, dass postmoderne Feministinnen schon diese Tatsache für problematisch halten, sondern stellen lediglich fest: Bereits Ihr Eigenname bzw. die damit verbundene einordnende Zuschreibung wird im weiteren Leben die Art und Weise bestimmen, wie bzw. als was man Sie wahrnimmt – in diesem Falle als männlich oder weiblich. Selbst die modische Wahl des Namens spielt eine realitätskonstitutive Rolle: Studien haben ergeben, dass heute Schüler mit Namen wie Sebastian, Tobias und Alexander, Sophia, Charlotte und Ann-Kathrin eine erheblich bessere Bildungsprognose erhalten als Kinder, die das Pech haben, Kevin, Pätrick, Sabrina, Jasmin oder Jacqueline zu heißen. Die Wahl schon des Eigennamens offenbart nämlich einen spezifischen sozialen Habitus, dem zu entrinnen nicht einfach ist. – Im Falle des Eigennamens sind es Mediziner, Standesbeamte und Eltern, die ihn Ihrer Person zuweisen und diese Person damit erschaffen, also durch die Benennung eine Art sprachlichen Einsetzungsakt vollziehen, und zwar weil sie, in abgestufter Reihenfolge, gesellschaftlich autorisiert sind, dies zu tun. Man kann auch sagen: Sie haben die Vollmacht dazu.

Was für diesen ursprünglichen und fundamentalen Akt der Einordnung durch Verleihung eines geschlechtsspezifischen und status-signalisierenden Eigennamens gilt, lässt sich nun aber auf jede Art gesellschaftlich relevanter Benennung übertragen, auf ethnische Einordnungen, sexuelle Charakterisierungen, religiöse Zuschreibungen, öffentliche Ernennungen, Titel, aber auch auf Beleidigungen, politisch oder sozial herabsetzende Einstufungen usw. Dies gilt gleichermaßen für öffentliche wie mehr oder minder private Benennungen und Zuschreibungen. Sie haben als performative Akte des Sprechens eine gewisse scheinbar „magische“ Wirkung und stehen – wie bemerkbar auch immer – in Beziehung zur Macht. Anders ausgedrückt: Indem Benennungen eine soziale oder kulturelle Einordnung und Verstrickung in das gesellschaftliche Gefüge vornehmen, besitzen sie die Macht, das Schicksal der Benannten mitzubestimmen. Pierre Bourdieu schreibt dazu:

„Kein sozialer Akteur, der nicht auch im Rahmen seiner Möglichkeiten Anspruch auf die Macht erhöbe, zu benennen und benennend die Welt zu gestalten: Klatsch, Verleumdung, üble Nachrede, Beleidigungen, Elogen, Anschuldigungen, Kritiken, Polemiken, Lobreden entsprechen – nur eben in der kleinen Münze des Alltags – jenen feierlichen Kollektivakten des Ernennens, Feierns oder Verurteilens, die den allgemein anerkannten Autoritäten obliegen.“ – Gewiss besteht ein Unterschied zwischen einer Ernennung oder Verurteilung durch staatlich anerkannte Autoritäten einerseits und der eher privaten Beleidigung oder Herabsetzung andererseits; letztere hat weniger symbolische Kraft als die, die durch machtvolle Institutionen gestützt wird, aber dennoch, so Bourdieu, „sie haben mit ihnen jene Intention gemein, die performativ oder einfach magisch genannt werden kann: Die Beleidigung wie die Ernennung gehören zur Klasse der sozial mehr oder weniger abgesicherten Ein- und Absetzungsakte, durch die eine Einzelperson, die in eigenem Namen oder im Namen einer zahlenmäßig oder sozial mehr oder weniger bedeutenden Gruppe handelt, jemandem mitteilt, er habe diese oder jene Eigenschaft, und zugleich, er habe sich der ihm auf diese Weise zugesprochenen sozialen Natur gemäß zu verhalten.“ (Pierre Bourdieu, „Was heißt sprechen?“, S. 71)

Wenn auf gewissen Schulhöfen Mädchen, die kein Kopftuch tragen und keinen muslimischen Hintergrund aufweisen, von jugendlichen Machos als „Schlampen“ bezeichnet werden, so ist das weitaus mehr als eine flegelhafte Beleidigung: Die beleidigende Benennung enthält zugleich die mehr oder minder machtgestützte Aufforderung, Mädchen als inferiore, sittlich wertlose, wie Freiwild verfügbare Wesen anzusehen und zu behandeln. Eine Benennung, die soziale Macht gewinnt, im Kleinen wie im Großen, funktioniert als eine Art Wahrnehmungsprogramm – sie bestimmt, als was die Benannten wahrgenommen werden. Wenn jemand, der, in welchem Rahmen auch immer, mit Autorität und diskursiver Macht ausgestattet ist, eine ganze Volksgruppe auf Sozialschmarotzer oder bestenfalls unproduktive Obst- und Gemüsehändler reduziert, sorgt dafür, dass diese Gruppe auch entsprechend der sprachlich aufbereiteten Klischees wahrgenommen und bewertet, d. h. dann auch: behandelt  wird. Genauso wenig dürfte es das egalitäre, friedliche Zusammenleben fördern, wenn die Anhänger einer bestimmten Religion alle diejenigen, die ihr nicht anhängen, pauschal als „Ungläubige“ verunglimpft. – Die sprachliche Benennung, besonders die diffamierende, die eine gesellschaftliche Gruppe herabsetzt, ihr einen niederen Rang zuweist und sie abspaltet, hat stets die Tendenz, zur Handlung zu werden, die Realitäten schafft. Sprachphilosophie kann sich daher über die soziale Welt nicht hinwegsetzen, sondern muss sich darüber im Klaren sein, dass die sprachliche Benennung, wie Bourdieu sagt,

„über die Durchsetzung einer mehr oder weniger autorisierten Vorstellung von der sozialen Welt die Gestaltung der Realität eben dieser Welt beeinflusst: Das Wort, und erst recht die Redensart, das Sprichwort und alle stereotypen oder rituellen Ausdrucksformen sind Wahrnehmungsprogramme, und die verschiedenen mehr oder weniger ritualisierten Strategien des täglichen symbolischen Kampfes gehen, genau wie die großen Kollektivrituale des Ernennens, oder, deutlicher noch, der Zusammenprall der Vorstellungen von Gegenwart und Zukunft im eigentlichen politischen Kampf, mit einem bestimmten Anspruch auf symbolische Autorität einher, auf die sozial anerkannte Macht, eine bestimmte Vorstellung von der sozialen Welt, das heißt von ihrer Gliederung, durchzusetzen.“ (ebd., S. 72)

Emanzipatorische Sprachpolitik

Die heutige sprachkritische Sensibilität für performative Zuschreibungen nahm ihren Ausgang, wie gesagt, in den USA, doch griff sie bald auch auf Europa über: Gesellschaftlich benachteiligte oder unterdrückte Gruppen begannen sich gegen rassistische oder sexistische Benennungen zu wehren, gegen Bezeichnungen etwa, deren Konnotation Verachtung oder Geringschätzung, möglicherweise sogar Hass transportierte. Für solche sprachlichen Abwertungen kreierte die amerikanische Linke den Ausdruck hate speech, also aggressives, aktiv diskriminierendes, hass- oder ressentimenterfülltes Sprechen. Viele solcher von hate speech betroffenen Gruppen setzten durch, die traditionellen Bezeichnungen durch selbst gewählte und wertneutrale, historisch noch unbelastete zu ersetzen. Das gilt für die afroamerikanische wie für die hispanische Minderheit in den USA, für die amerikanischen Ureinwohner, in Europa für Schwarze und Nordafrikaner oder für die Zigeuner, die jetzt Sinti und Roma genannt werden wollen und sollen. Nur, nebenbei, allein die Juden, Kummer gewohnt, haben eine Umbenennung nicht erwogen, woraus einer der kürzesten Witze aus dem Schatz jüdischen Humors resultiert: „Papa! Der Goi hat Jude zu mir gesagt!“ – Nichtsdestoweniger führen wir Deutsche aus Scham über das, was wir den Juden angetan haben, heute ziemlich komische Verrenkungen aus, und ersetzen das Wort „Jude“ gern durch Verlegenheitsbezeichnungen wie „Bürger jüdischen Glaubens“, was die Sache nicht besser macht, zudem, weil es auch ungläubige Juden wie Henryk M. Broder gibt, die sich sicher kaum durch ihren Glauben charakterisieren lassen möchten.

Manchmal wirkt der sprachreinigende Umbenennungseifer tatsächlich etwas kurios und verkrampft; oft genug ist er aber dennoch durchaus plausibel motiviert. Ich gestehe, mich auch schon einmal über „Roma-und-Sinti-Schnitzel“ oder „Roma-und-Sinti-Musik“ lustig gemacht zu haben, aber natürlich ist es klar, dass der einst gedankenlos und unbeschwert verwendete Begriff „Zigeuner“ durch die Ausgrenzung und Verfolgung der so bezeichneten ethnischen Minderheit historisch kontaminiert ist. Was es mit solcher historischen Kontaminierung auf sich hat, erläutert die amerikanische Philosophin Judith Butler so:

Ein Name tendiert dazu, das Benannte festzuschreiben, es erstarren zu lassen, zu umgrenzen und als substantiell darzustellen. Er ruft eine Metaphysik der Substanz, der wohlunterschiedenen, singulären Arten von Seiendem in Erinnerung. (…) Offenbar haben die verletzenden Namen eine Geschichte, die im Augenblick der Äußerung aufgerufen und wieder gefestigt, jedoch nie ausdrücklich erzählt wird. Es geht nicht einfach um die Geschichte ihres Gebrauchs in bestimmten Kontexten und zu bestimmten Zwecken. Es geht vielmehr darum, wie diese Geschichten durch den Namen gleichsam eingesetzt und still gestellt werden. Der Name besitzt also eine Geschichtlichkeit,  in dem Sinne, dass seine Geschichte in den Namen selbst eingezogen ist und seine aktuelle Bedeutung konstituiert. Seine Geschichtlichkeit ist die Sedimentierung und Wiederholung seiner Gebrauchsweisen, die zum Bestandteil des Namens selber geworden sind, eine Sedimentierung und Wiederholung, die erstarren lässt und dem Namen seine Kraft verleiht.“ (Judith Butler, „Haß spricht. Zur Politik des Performativen“, S. 56, 57-58)

Wenn sich ethnische, sexuelle oder sonstige Minderheiten gegen zuschreibende Benennungen und Bezeichnungen wehren, in denen sich eine Geschichte der Verachtung, Ausgrenzung oder Verfolgung sedimentiert hat, ist das ein legitimes sozialpolitisches Anliegen und ein sprachpolitischer Bestandteil des Kampfes um Emanzipation und gesellschaftliche Gleichberechtigung. Oft ging dieser Kampf schlicht darum, diffamierende Fremdbezeichnungen durch Eigenbenennungen zu ersetzen, so bei den Sinti und Roma oder den früher sogenannten Eskimo durch Eigenbezeichnung Inuit; bei anderen wurden Bezeichnungen geschaffen, die der historischen Realität besser Rechnung tragen, so bei den kanadischen Indianern, die jetzt „First Nations“ heißen, oder den amerikanischen Ureinwohnern, die gegenwärtig zumeist „native Amerikans“ genannt werden, sofern man nicht den jeweiligen Stammesnamen verwendet.

Wir Deutschen sind, aufgrund unserer jüngeren Geschichte, besonders sensibilisiert, wenn es um den Gebrauch historisch kontaminierter Bezeichnungen geht; Viktor Klemperers „LTI“ („Lingua Tertii Imperii“ = „Die Sprache des III. Reichs“) oder Dolf Sternbergers „Wörterbuch des Unmenschen“ haben sich schon frühzeitig mit der pervertierten Sprache der Nazis befasst und entsprechende, kritisch sensibilisierende Vorarbeit geleistet, doch erst in der Gegenwart scheint der Kampf zur Ent-Nazifizierung der Sprache so richtig in Fahrt zu kommen. Die Liste der Wörter, die man nicht mehr sagen darf, scheint immer länger zu werden. Darauf komme ich noch zurück.

Der Kampf um die symbolische Macht

Selbstverständlich geht es dabei um mehr als um die sprachliche „Bewältigung“ und „Wiedergutmachung“ historischer Verbrechen, die man ja nicht rückgängig machen, sondern nur voll Scham betrauern kann. Im öffentlichen Diskurs, der sich in den Medien abspielt, tobt vielmehr ein beständiger sprachpolitischer Kampf verschiedener Machtgruppen um die symbolische Autorität der Zuschreibungen und der Benennungen, mit denen versucht wird, politische Realitäten zu schaffen, zu festigen oder zu verändern. Dieser Kampf ist keine Ausnahme, sondern der Normalzustand. Die Frage, „was man sagen darf“, ist niemals endgültig entschieden – sie ist eher Gegenstand eines anhaltenden, immer wieder neu sich entzündenden Kampfes und spiegelt die historischen Wandlungen des öffentlichen Bewusstseins wieder. Wer bestimmt, „was man sagen darf“, gewinnt Macht über die soziale und politische Realität und die Art, wie sie wahrgenommen wird. Ein Großteil symbolischer Politik besteht im Kampf um öffentliche Diskurshoheit und Deutungsmacht. Es handelt sich also keineswegs nur um Listen verbotener oder unangemessener Worte, es geht, unausgesprochen, letztlich um die diskursive Macht, das öffentliche Sprechen autoritativ zu regulieren und damit die öffentliche Wahrnehmung bzw. Konstruktion sozialer Realität steuern zu können. Interessensgruppen betreten das Feld des öffentlichen Diskurses, um Machtansprüche zu stellen und zu festigen, dabei ihre eigene Wahrnehmungsweise als natürliche und vernünftige zu etablieren und ihre Sprach-Codes als verbindlich zu installieren.

Ein mehr oder minder beliebiges, bestimmt kontroverses Beispiel: Seit einiger Zeit versuchen islamische Verbände gemeinsam mit deutschen Sympathisanten, eine neue Sprachregelung durchzusetzen, der zufolge man jedwede Kritik am Islam als „Islamophobie“ zu verstehen habe, die wiederum mit „Antisemitismus“ gleichzusetzen sei. Eine „Phobie“ ist aber nun schlimmstenfalls eine therapiebedürftige seelische Erkrankung; Antisemitismus eine Spielart des Rassismus, die gerade in Deutschland den, der ihrer überführt wird, mit einiger Sicherheit ins gesellschaftliche Abseits stellt. Die polemische Kombination von Medikalisierung und unterschwelliger faschistischer Konnotierung zielt erkennbar darauf ab, die demokratische Rede- und Meinungsfreiheit, die ja durchaus auch das Recht auf freie Religionskritik einschließt, zu untergraben, Kritiker einzuschüchtern und ein Klima der Diffamierung zu schaffen, das mit den Idealen einer aufgeklärten säkularen Gesellschaft nicht zu vereinbaren ist. Welcher vernunftbegabte Mensch möchte sich schon das Stigma des unbelehrbaren, Nazi-affinen „Rassismus“ anheften lassen – lieber schweigt er dann im Zweifelsfalle und hält mit kritischen Anmerkungen hinterm Berg. An diesem Punkt schlägt emanzipatorische Sprachpolitik in ideologische Repression um, die umso schwerer zu bekämpfen ist, als sie von vielen als sich „links“ oder „liberal“ verstehenden Medienmächten unterstützt wird, die anstelle von Sachargumenten mit plakativen politischen Zuschreibungen arbeiten.

Dieses Beispiel verdeutlicht einen aktuell immer häufiger zu beobachtenden Konflikt: Auf der einen Seite steht das hohe Verfassungsgut der Rede- und Meinungsfreiheit, auf der anderen Seite die prinzipiell legitime sprachpolitische Intention gesellschaftlicher Gruppen, das eigene Selbstbild und die damit verbundenen Sprachregelungen als verbindlich für die Gesamtgesellschaft durchzusetzen. Problematisch ist dies nicht nur als juridischer Konflikt zweier hoher Rechtsgüter, die gegeneinander abzuwägen sind. Im politischen Diskurs drohen legitime Kämpfe um nicht-diskriminierende Zuschreibungen und Benennungen faktisch nicht selten in ideologische und tendenziell anti-demokratische Versuche der Bevormundung und der öffentlichen Zensur umzuschlagen. Dies ist gar nicht immer Schuld der für das eigene Selbstbild kämpfenden Minderheiten; manchmal hängt der anti-freiheitliche Impuls auch mit dem sprichwörtlich deutschen Übereifer zusammen, das Kind mit dem Bade auszuschütten und sich als wackerer Anti-Rassist gerade dort zu profilieren, wo gar kein Rassismus vorliegt.

Wenn ich beispielsweise heute jemanden spöttisch als „Kümmeltürke“ bezeichnete, hätte ich wahrscheinlich schnell die integrationspolitische Linke und mit Sicherheit eine Reihe obligatorisch beleidigter türkischer Migranten-Verbände gegen mich aufgebracht. „Kümmeltürke“ – ist das nicht mindestens so schlimm wie „Geld-Jude“, „Kameltreiber“ oder „Zigeunergesindel?“ Nein, ist es eben nicht; der Ausdruck stammt aus der Studentensprache des 19. Jahrhunderts und bezeichnet ursprünglich einen Studenten der Universität Halle, der aus der dortigen Region stammte. Um Halle herum wurde damals nämlich viel Kümmel angebaut, und als „Türkei“ wurden gern deutsche Landstriche bezeichnet, die trostlos und wenig erbaulich waren. Ein „Kümmeltürke“ ist also ursprünglich ein provinzielles Landei aus der sächsisch-anhaltinischen Provinz, für die Herr Erdoğan gar nicht zuständig ist, selbst bei großzügigster Auslegung seiner Kompetenzen.

Bestimmt gehört auch das Verb „etwas türken“ oder „einen Türken bauen“ mittlerweile auf die Liste brisanter Wörter, die der Duden mit Warnhinweisen versieht. Aber auch hier wäre jede Anti-Diskriminierungs-Entrüstung verfehlt. Der Ausdruck stammt aus der Militärsprache des 17. Jahrhunderts, als europäische Heere bei ihren Manövern oft Schießfiguren aus Pappe benutzten, welche, nach damaliger Bedrohungslage, eben Türken darstellten. Einen Türken bauen hieß also schlicht, einen Pappkameraden aufzustellen, und dies später auch im übertragenen Sinne – pikanterweise meinte der Ausdruck „etwas türken“ auch, die virulente Türken-Angst zu schüren, um höhere Heeressteuern zu rechtfertigen. Dem türkischen Volk in toto charakterliche Unzuverlässigkeit zu unterstellen gehört indessen keineswegs in den semantischen Bereich des Wortes.

Ich erwähne solche Kuriosa nicht, um mich über die Sprachkritik der political-correctness-Bewegung lustig zu machen, sondern ich möchte auf etwas Grundsätzlicheres hinaus: Nicht immer ist nämlich ein gesellschaftlicher Konsens darüber zu erzielen, was ein herabsetzender, diffamierender oder diskriminierender Begriff ist und was nicht. Gibt es hierfür objektive Kriterien? Wer, wenn nicht schlicht die diskursive, symbolische Machtkonstellation, entscheidet darüber? Gut, über manche Bezeichnungen ist ein Konsens schnell erzielt – niemand wird leugnen, dass Bezeichnungen wie „Krüppel“ oder „Sozialschmarotzer“ diffamierende Bezeichnungen darstellen, welche die Macht besitzen, Minderheiten auszugrenzen. – Schillernder schon ist der Begriff „schwul“ für die zumeist männliche homosexuelle Minderheit. War diese Bezeichnung zunächst stark negativ konnotiert und denunzierend, avancierte sie später zur stolz und selbstbewusst übernommenen Selbstbezeichnung der Homosexuellen-Bewegung, um dann wiederum, auf unseren Schulhöfen, zum nicht unbedingt sexuell konnotierten Schimpf- und Abwertungswort für alles Mögliche zu verkommen. – Gänzlich unübersichtlich wird die Lage, wenn sich, was vorkommen soll, eine gesellschaftliche Gruppe durch Bezeichnungen beleidigt fühlt, die von der Mehrheit der Gesellschaft als legitim kritische Zuschreibung toleriert wird.

Dazu gehört ein weites Feld ethnischer und religiöser Zuschreibungen, die schon immer für politischen Zündstoff gesorgt haben. Hier finden wir die zahllosen abwertenden Bezeichnungen als fremd empfundener Nachbarn, die man mit dem Fachterminus „Ethnophaulismen“ nennt; „Kraut-, Frosch- und Spaghetti-Fresser“ sind hier zuhause, „Kanaken“, „Langnasen“, „Kameltreiber“, „Ziegenficker“, „Kartoffeln“ usw. Nicht immer fühlt sich die so bezeichnete Volksgruppe durch solche Schimpfnamen beleidigt. Wenn Amerikaner uns „Krauts“ nennen oder die Briten „Huns“ (= Hunnen), betrifft uns das nicht mehr besonders. Aber sicher kann die spezifische Ehrempfindlichkeit und Beleidigungsbereitschaft der jeweilig bezeichneten Gruppe auch nicht der alleinige Gradmesser dafür sein, was eine angemessene, „politisch korrekte“ Bezeichnung ist, und was nicht. Wenn eine Ethnie oder Glaubensgemeinschaft sich selbst als „auserwähltes Volk Gottes“ bezeichnet, müssen wir das in der Außenbezeichnung nicht unbedingt ratifizieren. Wer aber richtet dann über Angemessenheit und politische Korrektheit? Das allgemeine Volksempfinden? Der Staat? Die medialen Meinungsführer? Das wäre gleichermaßen unrealistisch.

 Strategien der Re-Signifizierung

Wenn es aber, von dem stets brüchigen und fragwürdigen allgemeinen Konsens abgesehen, keine allerhöchste Instanz oder Autorität gibt, die als oberster Diskurspolizist darüber richtet, „was man sagen darf“, bleibt die Frage im Einzelfall offen, und das heißt nichts anderes als: umkämpft. Wo eine oberste Autorität fehlt – und ihre Abwesenheit ist durchaus wünschenswert! –, erhebt sich allerdings um so schärfer die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, diskriminierende oder diffamierende Sprachspiele zu bekämpfen, ohne darüber zu vergessen, dass Rede- und Meinungsfreiheit eine Säule der demokratischen Gesellschaft ist, ohne die es auch keine freie Auseinandersetzung über sprachpolitische Fragen gäbe. Wörter lassen sich nicht verbieten. Wer dies versuchte, und sei es informell und durch medialen Druck, erzeugt leicht das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt. Schon die halb-offiziösen Wörter-Verbote, die wir heute haben – welche die Duden-Reaktion veranlassen, seit 2004 ihren Wörterbuch-Ausgaben eine Liste „brisanter“ Wörter beizugeben, evoziert, wie wir am begeisterten Publikum von Serdar Somuncu sehen, eine geheime Lust am Verbotenen – die verba non grata graben sich gerade durch ihre Verfemtheit um so unauslöschlicher ins Gedächtnis ein.  Die populistische Reaktion der BILD-Zeitung auf die Sarrazin-Debatte („Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“) weist darauf hin, dass inoffizielle Rede-Verbote eher kontraproduktiv wirken können.

Eine effizientere, wenn auch nicht in jedem Fall gelingende Subversion diffamierender Begriffe und Zuschreibungen schlagen postmodern-dekonstruktivistische PhilosophInnen wie Judith Butler vor. Butler, die sich gegen die in den USA sogenannte hate speech wehrt, also das hasserfüllte, diffamierende Sprechen über Minderheiten angreift, hält gleichwohl nichts von Verboten: „Wenn man … diese Ausdrücke untersagt und unsagbar lässt, wird man sie damit möglicherweise festschreiben, ihre Macht, zu verletzen erhalten und mögliche Umschreibungen blockieren, die ihren Kontext und ihre Zwecke verschieben könnten.“  Mit anderen Worten, die bloße Unterdrückung ihres Ausdruckes wird latente, schwelende Vorurteile nicht auflösen, im Gegenteil, deren Expression wird erst recht zu einem lustbesetzten, „irgendwie befreienden“ Ereignis, das letztlich den diffamierenden Effekt nicht zum Verschwinden bringt, sondern weiter trägt, dessen Aussprache gelegentlich sogar positiv mit Lust besetzt. Um es allgemein und anthropologisch zu formulieren: Jedes Tabu und jedes Verbot weckt, ja, konstituiert das Begehren seiner eigenen Überschreitung. Die staatliche oder informell mediale Schaffung eines sprachlichen Bezirks verbotener Wörter erreicht nicht das Intendierte. Sie führt zuletzt dazu, das unausgesprochene Ressentiments im Verborgenen, im stummen Untergrund der berühmten schweigenden Mehrheit, weiter schwelen und dort politisch infektiös werden können. Butler empfiehlt daher eine andere Form kritischer Sprachpolitik.

Ihre Strategie trägt den Namen Re-signifizierung. Hinter diesem Begriff verbirgt sich ein elegant-listiges Vorgehen, bei dem der diffamierende Begriff, anstatt frontal bekämpft und zurückgewiesen zu werden, gerade im Gegenteil übernommen, aber mit einem neuen, positiven Sinn konnotiert wird. Neben dem bereits erwähnten Diffamierungsbegriff „schwul“ betrifft dies in der jüngeren Vergangenheit zum Beispiel die Bezeichnungen „punk“ und „trash“. Beides bezeichnete ursprünglich auf aggressiv pejorative Weise den „Abschaum“, den „Dreck“, „Müll“ und „Abfall“, kurz: den kulturlosen, bildungsfernen, sozial perspektivarmen „Bodensatz der Gesellschaft“.

Die so bezeichneten und verächtlich gemachten Gruppen „resignifizierten“ das Schimpfwort auf grandiose Weise, d. h. stellten es selbstbewusst-ironisch in einen neuen, positiv besetzten Kontext und verwendeten es nun ihrerseits als Emblem zur affirmativen Selbstbezeichnung. So wurde aus dem „Punk“ am Ende eine hoch angesehene Strömung der Pop-Kultur und „Trash“ zu einem auch in „hochkulturellen Kreisen“ akzeptierten Genre-Begriff. Der Schimpf-Name wurde hier also nicht gebraucht, sondern zitiert, was bedeutet, in einen neuen Bedeutungshorizont überführt, als Zeichen umgedeutet, eben „re-signifiziert“. Solche Vorgänge der Re-signifizierung von vorurteilsbeladenen Zuschreibungen finden wir in Deutschland z. B. bei dem deutsch-türkischen Schriftsteller Feridun Zamoğlu, der in seinen frühen Werken die „Kanak-Sprach“ rehabilitierte oder bei dem erwähnten Serdar Somuncu, der sich stolz als „Deutsch-Kanake“ bezeichnet. In beiden Fällen wurden Diffamierungsbegriffe ironisch übernommen und, in einem veränderten Kontext, mit neuen, positiven Konnotationen versehen. Die Raffinesse dieser Strategie besteht darin, dass der alte, historisch kontaminierte, negative Bedeutungshorizont sichtbar bleibt, durchscheint, also nicht etwa geleugnet oder vergessen wird, und dennoch in seinem neuen situativen Zusammenhang die diskriminierende Gewalt verliert.

Die Wirkungsmacht solcher Strategien, so spannend manche ihrer Ergebnisse sich ausnehmen, ist jedoch prinzipiell auf Einzelfälle begrenzt. Die Sprache als ganze lässt sich nicht dekontaminieren und „politisch säubern“, denn die wertende, typisierende Abstraktion ist das unvermeidliche Funktionsmerkmal ihrer Begriffsbildung. Eine „gerechte“ und von jeder Wertung bereinigte, der historischen Belastung entkleidete Sprache, wie sie manchen Aktivisten der political correctness vorschwebt, ist, im schlechtesten Sinne des Wortes, eine Utopie. Ihre Verwirklichung wäre wahrscheinlich gleichbedeutend mit der Zerstörung des Sprechens überhaupt. Um dieses Problem zu umreißen, möchte ich auf die eigentümliche Karriere eines politischen Kampfbegriffes verweisen, der in aktuellen Diskursen eine fast übermäßige Bedeutung gewonnen hat – der Begriff des „Rassismus“ nämlich.

Rassismus ohne Rassen?

Ursprünglich ist dieser Begriff relativ scharf umrissen gewesen. Er bezeichnete, im Rückblick vor allem auf die Geschichte des Antisemitismus, eine in der Neuzeit entstandene Ideologie, die auf einer biologistischen Vorstellung von der Existenz höher- und minderwertiger Menschenrassen aufbaut und damit die Ausgrenzung, Unterdrückung, Verfolgung und Ausrottung ganzer Ethnien rechtfertigte, die angeblich zum Nutzen höherer „Herrenrassen“ zu erfolgen hatte. Die die Sklaverei legitimierende Auffassung von der angeblichen Höherwertigkeit der „weißen Rasse“ gegenüber den schwarzen Völkern Afrikas sowie die zu Verfolgung und Völkermord führende Behauptung der „Bedrohung“ der „arischen Herrenrasse“ durch die jüdische Minderheit in Europa bilden die beiden schlimmsten, verheerendsten und menschenfeindlichsten Giftblüten dieses Rassismus, der sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts systematisierte und sich dabei ein pseudowissenschaftliches, biologisch-anthropologisches Gepränge gab. –

Einen „vorwissenschaftlichen“, pragmatischen Rassismus avant la lettre hat es natürlich schon immer gegeben. Überall, wo Eroberervölker in fremde Territorium einfielen, um die dort lebende, indigene Bevölkerung zu unterdrücken, auszubeuten und zu unterwerfen, wurde diese als angeblich inferior und minderwertig deklariert. Dies gilt für die autochthone Bevölkerung Indiens genauso wie für die indianischen Kulturen Nord- und Südamerikas oder die Aborigines in Australien. Die vorgängige Diffamierung der zu unterwerfenden Völker als „Barbaren“, „Kaffern“, „Rothäute“, „Wilde“, „Heiden“ oder „Ungläubige“ usw. gehört seit jeher zum Inventar imperialistisch-kolonialistischer Gewalt.

Dass in diesem Sinne rassistisch kontaminierte Begriffe, in denen sich Hass und Verachtung gegenüber einer „rassisch“, ethnisch oder kulturell definierten Gruppe sedimentieren, bekämpft werden und ihr öffentlicher Gebrauch geächtet wird, scheint legitim und vernünftig, wenngleich wir im Hinterkopf behalten sollten, dass die nachträgliche symbolisch-politische Korrektur der Begriffe das historische Geschehene nicht ungeschehen macht. Mögen wir den Begriff „Zigeuner“ hinfort nicht mehr verwenden – das Leid, das dieser Volksgruppe in der Nazi-Zeit angetan wurde, ist damit nicht rückwirkend aus der Welt geschafft. Es waren trotz aller sprachlichen Reinigungszwänge eben die Juden, die Zigeuner, die als „slawische Untermenschen“ diffamierten Völker des Ostens, die zu Millionen in deutschen KZs oder von SS und Reichswehr ermordet wurden. In dieser Hinsicht ist der Rassismus in all seiner Unmenschlichkeit und völkermörderischen Konsequenz eine historische Tatsache, um deren Aufarbeitung und Verständnis wir uns bemühen.

In den letzten Jahren nun hat der Ausdruck „Rassismus“ jedoch eine extreme, und wie ich persönlich finde, problematische Ausweitung erfahren, die auf den Begriff „Rassismus ohne Rassen“ gebracht wird. Eine einflussreiche Strömung der zeitgenössischen Soziologie und Politologie möchte den Begriff des Rassismus von seinen denkgeschichtlichen, d. h. biologistischen Wurzeln ablösen und auf jede wertend differenzierende Zuschreibung von Eigenschaften auf irgendeine gesellschaftliche Gruppe, sei sie nun ethnisch, kulturell, sexuell, religiös, sozial oder sonst wie definiert, ausweiten. Demzufolge wäre es bereits „Rassismus“, wenn man irgendeiner beliebigen gesellschaftlichen Gruppe – Frauen, Behinderten, Homosexuellen, Migranten, Kindern, Armen etc. – überhaupt kollektive Eigenarten irgendwelcher Art zuschriebe, ob diese nun als Wertungen intendiert seien oder nicht. Mag diese Auffassung im strengen Rahmen theoretische Wissenschaft noch irgendwie hingehen, wird sie in der Praxis des politischen und soziokulturellen Diskurses rasch zur Absurdität, und, schlimmer noch, zur ideologischen Waffe. Nicht ohne List wird dabei eine sonderbare Art ultra-radikaler Nominalismus vertreten, demzufolge es in der gesellschaftlichen Realität nur Singularitäten gäbe, und schon die Konstruktion von Kollektiv-Identitäten per se eine Versündigung an den Menschenrechten bedeute.

Einer Ethnie bestimmte „Nationaleigenschaften“ zuzuschreiben, vor allem natürlich negativ besetzte, wäre demnach also bereits „rassistisch“. Seltsamerweise sind es oft die gleichen Menschen, die ständig grübeln, was eigentlich „deutsch“ sei, die empört aufschreien, wenn etwas als „typisch türkisch“, „typisch italienisch“ oder, Gipfel des Grauens, als „typisch jüdisch“ bezeichnet wird. Offenbar haben die Juden durch unsere Verfolgung das Recht auf einen ethnischen Phänotyp verloren – sie müssen ununterscheidbar werden, damit sie vor unserer Diskriminierung geschützt sind. Diesen besinnungslosen Nominalismus kann man täglich am Werk sehen.

Erhebt sich eine Kritik z. B. an der Repräsentation des Islam in Deutschland, heißt es sofort empört: „DEN Islam gibt es ja gar nicht!“ Wird über die Integrationsbereitschaft unterschiedlicher ethnischer Migrantengruppen diskutiert, kommt unverzüglich mit Blaulicht die politisch korrekte Diskuspolizei, um uns darauf hinzuweisen, „DIE Türken“ oder „DIE Araber“ existierten „so“ gar nicht, – und diese nicht-existente Gruppe mit irgendwelchen kollektiven Zuschreibungen zu belegen sei von vornherein „rassistisch“. Ob die Diskurs-Polizisten damit jenen einen Gefallen tun, die sie schützen wollen, sei dahingestellt. Wollen sie damit sagen, es gäbe keine türkischen Nationaleigenschaften? Und irgendetwas allen Muslimen Gemeinsames existiere nicht? Das ließe sich kaum ernsthaft behaupten – es wäre auch anmaßend gegenüber Minderheiten, die sich doch selber gerade durch ihre ethno-kulturellen oder religiösen Eigenheiten definieren und aus dieser Selbstdefinition ihre besondere Identität beziehen! Identitätspolitik ist eine komplexes Geflecht von Strategien zur Aushandlung gegenseitiger Anerkennung – besonders heikel wird es deshalb, wenn Apostel der politischen Korrektheit diese Identitätspolitik stellvertretend für Andere betreiben wollen. Ich wäre neugierig, was Ministerpräsident Erdoğan, der lautsprecherische Bannerträger und Beschwörer des Türkentums, antworten würde, würde ihm von grün-linken deutschen Meinungsführern vorgehalten, es gäbe gar nichts „typisch Türkisches“, und wer das behaupte, sei ein Rassist. – Nun ja…

So gut gemeint solche Einwürfe gegen identifizierende Zuschreibungen sein mögen, sie scheinen mir also doch sehr diskussionswürdig. Ich persönlich sympathisiere selbst durchaus auch mit dem Nominalismus, d. h. auch ich bin überzeugt, dass Allgemeinbegriffen und Kollektiv-Nomina in ontologischer Hinsicht keine reale Existenz zukommt. Es handelt sich dabei um menschengemachte, also immer im gesellschaftlichen Raum vorgenommene begriffliche Abstraktionen. – Ich werde gewiss in meinem Leben niemals realiter einem „Hund“ begegnen, immer nur Pudeln, Doggen und Möpsen, und auch denen streng genommen nie, sondern immer nur individuellen Vertretern der Familie der Canidae mit Namen Rocko, Fiffi, Waldi und Tyson. Doch auch wenn es „den“ Hund nicht gibt, werde ich deswegen kaum Kommunalpolitikern verwehren können, über die Hundesteuer zu debattieren. Ich habe auch noch nie gehört, dass ein Hundebesitzer die Entrichtung der Hundesteuer mit der Begrünung verweigert hätte, „der Hund“ existiere ja gar nicht.

Selbstredend gibt es auch nicht DEN Hartz4-Empfänger, DIE kinderreiche Familie oder DIE Arbeitslosen. Auf der ontologischen Ebene gibt es nur Individuen und persönliche Schicksale. Dennoch wird man im politischen Diskurs sicher nicht umhin kommen, Kollektiv-Nomina zu bilden und zu verwenden, wenn man über sozialpolitische Reformen streitet. Jedesmal, wenn eine gesellschaftliche Gruppe kollektiv angesprochen wird, umstandslos „Rassismus“ zu schreien, ist nicht nur absurd, es verwässert den Begriff des „Rassismus“ auch ins Unscharfe und Verschwommene und nimmt ihm jede kritische Potenz. Das blinde, undifferenzierte und unreflektierte Herumfuchteln mit solchen politischen Kampfbegriffen verhindert m. E. darüber hinaus genau das, was es angeblich befördern soll: eine freie, sachbezogene politische Debatte.

 Gibt es eine „politisch korrekte“ Sprache?

 Was die politische Sprachkritik im Namen der political correctness angeht, gibt es m. E. zwei Aspekte, die besonders einer sprachphilosophischen Diskussion bedürfen.

 1.) Der erste Aspekt betrifft das Verhältnis von Sprache und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Letztere ist zweifellos sprachlich – oder diskursiv – verfasst, und das bedeutet, dass sprachliche Zuschreibungen und Benennungen in beträchtlichem Maße dazu beitragen, soziale Realität zu konstruieren; diffamierende Benennungen, wieder und wieder wiederholt und re-zitiert, üben politische Gewalt aus und können dazu beitragen, Gruppen in ihrem Status herabzusetzen, auszugrenzen und allgemeiner Verachtung preiszugeben, wogegen sich zu wehren mehr als legitim ist. Auf der anderen Seite ist aber vor dem Umkehrschluss zu warnen, eine „bereinigte“, „gerechte“, „nicht-diskriminierende“ Sprache, wenn es sie denn gäbe, sei bereits in der Lage, automatisch eine bessere soziale Welt zu generieren. Allein dadurch, dass ich körperlich oder psychisch eingeschränkte Menschen nicht mehr „Krüppel“ oder „Idioten“ nenne, sondern höflich „Menschen-mit-Behinderung“, hat sich an deren Lage, etwa ihren Chancen auf dem Arbeitsmarkt, noch rein gar nichts verändert.

In den USA wollte man im Furor der politisch-korrekten Sprachbereinigung bekanntlich sogar das Wort „Behinderung“ gänzlich ausmerzen und nannte eine Weile, ich weiß nicht, ob heute noch, Behinderte „physically“ oder „mentally challenged people“, körperlich oder geistig „besonders herausgeforderte Menschen“ also. Ein Blinder war demzufolge fortan nicht mehr blind, sondern „visuell besonders herausgefordert“. Ob durch diese Bereinigung ein einziger Sehbehinderter mehr eingestellt oder seine Beihilfe erhöht wurde, ist nicht bekannt. Auch das Augenlicht hat ihm die bereinigte Sprache nicht wieder gebracht.

Die Gefahr besteht meiner Beobachtung nach tatsächlich, dass im politischen Diskurs an die Stelle von diffamierenden Bezeichnungen Euphemismen treten, die eine reformbedürftige Situation eher beschönigen als klar umreißen. Ob ich einen Arbeitslosen, der zur  ARGE kommt, nun als Arbeitssuchenden, als Klienten oder gar als „Kunden“ bezeichne, ändert weder viel an seiner Lage noch erstattet es ihm seine Würde zurück, denn die ist ihm in erster Linie durch ein soziales Faktum, nämlich durch die Verweigerung einer sinnvollen Arbeit genommen, nicht so sehr durch eine entwürdigende Bezeichnung. Um es noch einmal zu wiederholen: Dass der soziale Status gesellschaftlicher Gruppen auch sprachlich konstituiert ist, bedeutet nicht, dass er sich durch sprachliche Umbenennung allein auch schon ändert. Das wäre sprachidealistisches Denken, wie es an den Rändern der intellektuellen Postmoderne hin und wieder in Erscheinung getreten ist. Dass sprachliche Diskurse eine mächtige Rolle bei der Konstruktion des Sozialen spielen, bedeutet keinesfalls, dass „alles Diskurs ist“, und man die materielle Welt der Praktiken, Institutionen und Klassenverhältnisse außer Acht lassen könnte.

2.) Der zweite Aspekt betrifft die fragwürdige Macht, den der Diskurs der Sprachreinigung selber ausübt. Ich persönlich halte sie für gefährlich, gebe aber gern zu, dass die von ihr ausgehende Gefahr je nach politischem Standpunkt unterschiedlich bewertet wird. Mir scheint sie recht real. Der Versuch, eine Art tugendhafte Idealsprache zu entwerfen und in öffentlichen Debatten durchzusetzen, hat, finde ich, nicht nur gelegentlich zu hysterischen Übertreibungen geführt, er schafft auch das schwer greifbare, aber durchaus spürbare Klima einer Art inoffiziellen Zensur. Erregte Sprach-Debatten darüber, was und wie man etwas „sagen darf“, überdecken und verdrängen dabei immer häufiger die offene und freimütige Erörterung politischer Missstände. Man wird, um auf dem Feld der heute gewählten Beispiele zu bleiben, kaum öffentlich über Fehler und Erfolge der deutschen Integrations- bzw. Migrantenpolitik diskutieren können, ohne zwischen verschiedenen Gruppen zu differenzieren und diese auch unterscheidend zu benennen.

Die öffentlichen Debatten erreichten meiner Meinung nach in dieser Hinsicht im vergangenen Jahr einen Niveau-Tiefpunkt, selbst in argumentationslogischer Hinsicht. Wenn ein Politiker, ob zu Recht oder Unrecht bleibe völlig dahingestellt, behauptet, in bestimmten sozialen Problembezirken gäbe es 70% Migranten türkischer oder arabischer Herkunft, die Integrationsdefizite besäßen, ist es doch wohl kaum sinnvoll, daraufhin wochenlang triumphierend Repräsentanten der anderen 30% vorzustellen, denen die Integration vorbildlich gelungen sei. Das ist doch keine Widerlegung, sondern gerade eine Bestätigung der inkriminierten These! Merkt das denn niemand?  Den Eiferern der politischen Korrektheit scheint es zumindest gar nicht aufgegangen zu sein. Wenn eine Gruppen-Zuschreibung als diskriminierend empfunden wird, muss man sich schon die Mühe machen, nachzuweisen, dass die begriffliche Konstituierung der Kollektiv-Nomina der Realität nicht entspricht, dass falsche Generalisierungen vorgenommen und dadurch  bestimmte definierte Gruppen verächtlich gemacht geworden seien. – Aber ich möchte nicht in die Untiefen politischer Tagesauseinandersetzungen geraten, deshalb an Ende noch etwas Grundsätzlicheres:

Ohne mich in psychoanalytische Fahrwasser begeben zu wollen, wiederhole ich, dass das ohne Begründung und Reflektion durchgesetzte Verbot, bestimmte Worte zu benutzen, diese eher mit einer Form von subversiver Lust besetzt. Das alte Dilemma des Verbotes besteht darin: Es konstituiert allererst die Lust und das Begehren, es zu überschreiten. Wörter zu verbieten, wir alle kennen das von den früher als „unanständig“ oder „schmutzig“ sanktionierten Wörtern, umgibt diese mit einer Art Aura, einer Verlockung und Verführung, sie trotz oder gerade wegen ihrer Tabuisierung zu benutzen. Was glauben Sie, warum Generationen von Pennälern geradezu zwanghaft die Schultoiletten-Wände mit Obszönitäten und Ausdrücken der Sexual- oder Fäkalsprache, oder, seit einiger Zeit auch gern mit Hakenkreuzen bekritzeln? Ist unser Nachwuchs derart sexistisch und neo-nazistisch? Wohl kaum. Die inkriminierten Wörter und Zeichen werden benutzt, eben weil dies verboten und geächtet ist, und der Sinn dieser Ächtung mit so viel unausgesprochenen, tabuisierenden Geheimnissen umgeben zu sein scheint, dass die provozierende Überschreitung des Verbots zur Herausforderung wird.

Wenn der eingangs erwähnte Serdar Somuncu auf der Kabarettbühne bis zum Überdruss „verbotene Wörter“ benutzt, stellt sich am Ende ein entmystifizierender Effekt ein: Die Tabu-Wörter und verbotenen Redensarten verlieren ihren Nimbus, ihre gewalttätige, magisch-aggressive Kraft, sie werden transparent und ihr Gebrauch allen Geheimnisses beraubt. Sie stehen am Ende als das da, was sie sind: traurige Relikte, sprachliche Zeugen einer verabscheuungswürdigen Praxis. Haben wir diese Praxis wirklich hinter uns gelassen? Dann brauchen wir auch keine Angst vor ihren sprachlichen Ausdrucksformen zu haben.

Judith Butler, als Jüdin, Intellektuelle, Frau, Feministin und Lesbierin vielfältigen diskriminierenden Bezeichnungen ausgesetzt, kommt in ihrem klugen Buch über hate speech dennoch zu folgendem Urteil: „Daß die Sprache ein Trauma in sich trägt, ist kein Grund, ihren Gebrauch zu untersagen. Es gibt keine Möglichkeit, Sprache von ihren traumatischen Ausläufern zu reinigen, und keinen anderen Weg, das Trauma durchzuarbeiten, als die Anstrengungen zu unternehmen, den Verlauf der Wiederholung zu steuern. (…) Schließlich ist jede Benennung durch einen Anderen traumatisch, weil diese Handlung meinem Willen vorausgeht und mich in eine sprachliche Welt versetzt, in der ich erst beginnen kann, meine Handlungsmacht auszuüben. In den fortwährenden Anrufungen des gesellschaftlichen Lebens wiederholt sich eine grundlegende Unterordnung… Ich habe einen bestimmten Namen erhalten, und weil ich einen bestimmten Namen erhalten habe, bin ich in das sprachliche Leben eingeführt worden: Das heißt, ich beziehe mich durch die Sprache, die andere mir gegeben haben, auf mich selbst (…) Die Bezeichnungen, die man uns beilegt, decken sich selten mit denen, die wir selbst wählen (Versuche, protokollarisch festzulegen, wie man uns nennen darf, scheitern in aller Regel). Doch diese Bezeichnungen, die wir nie wirklich wählen, machen das möglich, was wir weiterhin als ‚Handlungsmacht’ bezeichnen können, nämlich die Wiederholung der ursprünglichen Unterordnung zu anderen Zwecken, deren Zukunft zum Teil noch offen ist.

 Was man sagen darf, noch einmal

 Meine Damen und Herren,

mit meiner Schlussfolgerung am Ende versuche ich, diese zitierten Sätze zu interpretieren und zu erläutern, und kehre damit zu der Frage zurück, „was man sagen darf“. Ich persönlich habe darauf eine Antwort, wegen der Sie mich gern wahlweise als Anarchisten, Ultralinken, Neo-Konservativen, Rechten oder Neo-Nazi bezeichnen dürfen:  – Man darf ALLES sagen!

Verantwortlich einzustehen hat man für das, was man tut, indem man es sagt, und dies wiederum ist eine Frage der Kontexte, der diskursiven Situation, der Machtverhältnisse und dessen, was Butler die Wiederholung nennt. Wiederholung meint: Ich benutze Sprache, aber ich bin nicht ihr Schöpfer. Jeder Name, jede Zuschreibung, jedes Kollektiv-Nomen, das ich verwende, existiert bereits mit allen historischen Kontaminierungen, Sedimenten und Traumata; indem ich diese Sprachformen verwende, zitiere, ja re-zitiere ich sie immer schon. Oder, wie Judith Butler es ausdrückt: „Die Sprache, die das Subjekt spricht, (ist) konventionell und gleicht in diesem Sinne einem Zitat. Die juristischen Bemühungen, das verletzende Sprechen einzudämmen, neigen dazu, den ‚Sprecher’ als schuldigen Handlungsträger zu isolieren, so als stünde er am Ursprung dieses  Sprechens. (…) Tatsächlich ist der Sprecher gerade wegen des Zitatcharakters des Sprechens für seine Äußerungen verantwortlich. Der Sprecher erneuert die Zeichen der Gemeinschaft, indem er dieses Sprechen wieder in den Umlauf bringt und damit wiederbelebt. Die Verantwortung ist also mit dem Sprechen als Wiederholung, nicht als Erschaffung verknüpft.“ – Mit anderen Worten, es kommt bei dem Zitat auf Intention, Situation und Kontext an.

Wenn ich hier und jetzt etwa preußisch-schnarrend vom „französischen Erbfeind“ räsonierte oder mit überschnappender Stimme behauptete, „dörr Jude nömmt onserr Göltt, dörr Pole raupt onnserre doitschen Arbeitsplötze!“, – dann werden Sie das, aus der Kenntnis des Kontextes, wohl kaum als Statement zur Europapolitik wahrnehmen, und Sie werden auch nicht heimgehen und erzählen, ich hätte in meinem Vortrag gegen Juden und Polen gehetzt – was wegen meiner familiären Herkunft gleich doppelt unsinnig wäre –, sondern dies entweder als Mittel satirischer Ironie verstehen oder als deutlich selbstbezügliche, nämlich sich selbst entlarvende Unsinnigkeit, die die Dumpfheit nationalistischer oder rassistischer Vorurteile re-zitierend und re-signifizierend kenntlich macht. Die Wiederholung des Nazi-Sprachgerölls dient hier nicht zur Wiederbelebung, sondern zur Demaskierung und damit zugleich zur Entmystifizierung. Deswegen sind die Lesungen aus Hitlers Pamphlet, Goebbels’ Tagebüchern und Himmlers Briefen eben auch keine Werbung für den Nationalsozialismus; die Texte, dem Kontext brutaler Machtausübung und tobender Massenhysterie entzogen, gewissermaßen angstfrei ans Licht gebracht, ändern ihren Charakter – sind fungieren nur noch als ohnmächtig-schäumende, lächerliche und traurige Zeugnisse der Banalität des Bösen.

Darüber hinaus gestehe ich, ein altmodischer Anhänger des Liberalismus zu sein. Warum sollten wir Menschen verbieten, Unfug zu reden? Müssen wir denn Angst haben, der Unfug würde sofort wieder zur Massenbewegung? Eine solche Furcht wäre eher verräterisch, gäben wir damit doch zu, unserer eigenen Ent-Nazifizierung nicht recht über den Weg zu trauen. Ganz am Ende kann ich es mir daher doch nicht verkneifen, aus illustrativen Gründen ein ganz kurzes Wort zur sog. Sarrazin-Debatte zu sagen. Wenn ein deutscher Spitzenbeamter und Statistik-Freak in einem Buch seine stark fiskalisch und kameralistisch eingeengte Sicht auf die Sozialpolitik unseres Landes veröffentlichen möchte, darf er das tun. Das ist durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Wenn er dabei falsche Generalisierungen vornimmt, korrigiere man das öffentlich, nach Möglichkeit mit Sachargumenten. – Und warum sollte dieser Autor mit seiner ulkigen Vermutung, es gäbe vielleicht ein jüdisches Intelligenz-Gen, sich nicht öffentlich blamieren? Reichte es nicht, oder besser: Wäre es der allgemeinen Volksbildung nicht dienlicher, wenn man gelassen und ruhig darlegte, dass der Autor in diesem Falle rund 70 Jahre Diskussion und Forschung verschlafen hat? Statt in heller Aufregung, als stünde die braune Wiederergreifung der Macht vor der Tür, über „Rassismus“ zu lamentieren, sollte man schlicht richtig stellen, was da an Unsinn geäußert wurde. Das ist doch machbar, oder? Den dürren, etwas verknöcherten und bildungsbürgerlich-arroganten Räsonierer als „Rassisten“ an die Wand zu malen oder zu stellen, finde ich abwegig, denn es verharmlost die wahren und gefährlichen Rassisten dieser Welt; es verschafft seinem Diskurs einen Nimbus, den er nicht verdient.

Das Geniale am Konstrukt demokratischer Redefreiheit und dem Ideal einer freien, öffentlichen Debatte ist doch gerade, dass sie erlaubt, zum Vorschein zu bringen, was an Ressentiments, Vorurteilen und interessegeleiteten Irrtümern im Umlauf ist – nur so, wenn dies alles sein Gesicht zeigt, ist es auch möglich, ihm entgegen zu treten. Dem Ressentiment das Wort zu verbieten, ist eine unselige, kontraproduktive Praxis. Sie verdeckt mit einem Mantel des Geheimnisses, was in Wirklichkeit trivial und widerlegbar ist. Den um die Gerechtigkeit und absolute Neutralität des Diskurses ringenden Sprachreinigungskräften fehlt es da, meine ich, an Vertrauen in die Kraft des Korrektivs, das die öffentliche Debatte darstellt. Politische Demokratie und die Verwirklichung von Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit kann nicht herbei geredet, aber noch weniger herbei geschwiegen werden. Ihre volle Verwirklichung bleibt ein Desiderat, das in der materiellen Realität zu verwirklichen ist, bei allem Respekt vor der Macht des Symbolischen. Im Streit um das „richtige“ Sprechen geht es um das richtige Tun – das sollte nicht vergessen werden und ich denke auch, dass man das sagen darf.

Ich danke Ihnen.