Einer der liebenswürdigsten Laien-Philosophen der frühen Neuzeit wird hier vorgestellt, erklärt und porträtiert. Seine „Essais“ sind, in moderner Übersetzung, noch immer lesenswert. Sie verraten einen unabhängigen, wachen Geist und eine unerschrockene, unverbildete Intelligenz, wie sie heute selten geworden ist. Hier gehts zum Text (PDF-Datei zum Herunterladen!)

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Laienphilosophie

7. Dezember 2009

Laienphilosophie

Meine Damen und Herren,

lassen Sie mich damit beginnen, eines Ereignisses zu gedenken, das sich vor ungefähr 430 Jahren zugetragen hat. An seinem 38. Geburtstag entscheidet sich ein Mann, dem Getümmel des Krieges, den politischen Wirren seiner Zeit und dem Geschäftsleben den Rücken zu kehren. Im entlegensten Turm seines Gutshauses läßt er sich eine Wäschekammer zur Klause ausbauen, stellt darin seine Bücher auf und beschließt, den Rest seiner Lebenszeit damit zu verbringen, über sich und das Leben nachzudenken. Im Treppenhaus läßt er zur Bekräftigung seines Entschlusses eine Inschrift anbringen, die noch heute dort zu lesen ist:

»Im Jahre Christi 1571, 38 Jahre alt, am 28. Februar, seinem Geburtstag, hat sich Michel de Montaigne, seit langem der Bürden des Parlaments und der öffentlichen Pflichten müde, in voller Lebenskraft in den Schoß der gelehrten Musen zurückgezogen, wo er in Ruhe und Sicherheit die Tage verbringen wird, die ihm zu leben bleiben. Vergönne ihm das Schicksal, diese Wohnung der süßen Weltflucht seiner Ahnen zu vollenden, die er seiner Freiheit, seiner Ruhe und seiner Muße geweiht hat.«

Freiheiheit, Sicherheit, Ruhe, Muße – kostbare Güter damals. Was bei der »süßen Weltflucht« herauskam, diktierte er einem Sekretär, und so ist eines der charmantesten und originellsten Denktagebücher der Weltliteratur auf uns gekommen: Michel de Montaignes »Essais«, über die ich zu anderer Zeit an dieser Stelle berichtet habe. Auch wenn Montaignes Rückzug noch häufig durch Reisen, Missionen und Abenteuer unterbrochen wurde, bleibt seine Geste denkwürdig. Mit ihr wird ein sehr altes, lange verschollenes  Ideal wiederentdeckt: das private philosophische Leben, anders ausgedrückt: die praktizierte Laienphilosophie. Montaigne wußte viel vom Leben, er war Jurist, Soldat, Parlamentarier, Diplomat, Politiker und Erbe eines kleinen Landgutes an der Dordogne, aber er besaß weder philosophische Ausbildung noch literarische Erfahrung. Seine philosophischen Lieblingsschriftsteller Epikur, Cicero, Seneca und Plutarch behandelte er mit fröhlichem Eklektizismus, entnahm ihnen, was er brauchen konnte und verwarf unbekümmert den Rest. Er nahm sich das Recht, auf eigene Faust zu denken. Sein Ziel bestand nicht darin, ein scholastischer Gelehrter zu werden, sondern sich selbst zu ergründen, die eigenen Überzeugungen durchzumustern und das wilde, wirre, grausame und wunderbare Leben zu verstehen, das er so liebte. Seine -Stellung zu Gott und der Welt, zu Politik und Krieg, Menschlichkeit und Anstand, Haß und Grausamkeit, Krankheit, Leid und Sterben, zu Erotik und Freundschaft, Luxus und Armut, zu den sinnlichen Genüssen des Lebens und den Lasten der Existenz – dies und die tausend Themen, die sich damit verknüpfen, erweckten seine unbändige Neugier, seine nie nachlassende Spekulations- und Streitlust.

Das Universitätswesen mit seinen theologischen doctores und den gelehrten Magistern der Sorbonne imponierten Montaigne nicht sonderlich. Regeln, Diskurs-Vorschriften und Rituale des Gelehrtenwesens kümmerten ihn so wenig wie die Anerkennung eines intellektuellen Publikums. Mit ironischer Gelassenheit bekannte er sich zu seiner schmalen Halbbildung. Seine 1000bändige Bibliothek hatte er bloß geerbt und benutzte sie wenig, mit Ausnahme seiner Leibautoren, jener antiken Lehrer philosophischer Lebenskunst, die er wieder und wieder las. Doch Montaignes Lektüre nahm nie den Charakter akademischen Studiums an, schon deshalb nicht, weil er am liebsten im Sattel las, und zu Pferde sind massige Folianten schwer zu handhaben. Es entsprach aber auch nicht seinem Naturell. Texte waren für ihn Gebrauchsgegenstände, keine Kultobjekte, kein Studienzweck an sich. Seinen Seneca oder Plutarch behandelte er mit freundlicher Respektlosigkeit wie Nachbarn und gute Freunde, die auf einen Krug Wein zum Schwatz -herüberkommen. Er unterhielt sich mit ihnen, stritt, wenn notwendig, und schnitt ihnen, wenn sie weitschweifig wurden, schon einmal das Wort ab. Montaigne dachte als Privatmann, als »idiota« im Sinne des Nicolaus Cusanus, als unabhängiger, freier Selbstdenker, der nur auf einem einzigem Gebiet Expertentum reklamierte: dem seines individuellen, persönlichen Selbst und seiner eigenen Lebens-Erfahrung.

Montaigne erwies sich als ein bemerkenswert moderner, immoralistischer, skeptischer, freier Denker und Erforscher der eigenen Lebenssphäre. Seine Interessen waren dabei durchaus weit gespannt und Montaigne ein wacher, unabhängiger Beobachter seiner Zeit. Doch mangelte es ihm an Ehrgeiz, andere zu belehren; der Trieb zum Gesetzgeber und zur allgemeinen Lebens-Juristerei – eine heimliche Berufskrankheit der Philosophen – ging ihm völlig ab. Er betrieb -Philosophie zur Selbstaufklärung. Dieser radikale Privatismus wird und muß nicht jedem gefallen. Wer es auf die Verbesserung der Welt, der Menschen oder der Gesellschaft anlegt oder den Ruhm der Wissenschaft mehren möchte, dem wird der egozentrischen Privatismus à la Montaigne nicht genügen. Die  professoralen Vertreter der Universitätsphilosophie haben Montaigne  – wie nicht anders zu erwarten – zumeist mit scheelen Augen angesehen. Seine zugleich naive und ironische Respektlosigkeit, sein Skeptizismus, seine ungekünstelte, schlichte Sprache, seine vermeintlich »vulgären« Themen, sein Desinteresse an Fragen der Metaphysik, schließlich seine Weigerung, etwas wie eine Lehre oder ein System hervorzubringen, disqualifizieren ihn in den Augen der Berufsdenker. Wie Hegel beispielsweise weigern sie sich, ihn überhaupt als Philosophen zu akkreditieren. Nur die freien, universitätsfernen, unabhängigen Denker, solche wie Pascal, Goethe, Nietzsche oder Emerson haben ihn geliebt und anerkannt.

Ich erinnere an Michel de Montaigne, weil seine letzten zwei Jahrzehnte, die Zeit der »Essais«, ein Modell oder ein Vorbild abgeben könnten für das, was ich in diesem Vortrag als Laienphilosophie bezeichnen möchte, da ich um ein besseres Wort verlegen bin; daß der Begriff des »Laien« problematisch und letztlich diskriminierend ist, habe ich kürzlich schon an dieser Stelle dargelegt. Ich möchte heute der Frage nachgehen, ob es eine solche »fröhliche Wissenschaft«, wie Montaigne sie betrieb, unter den gegenwärtigen Bedingungen noch geben kann, welche Legitimation sie beanspruchen darf und was wohl, wenn man sie zulassen und betreiben wollte, ihre Ziele, Verfahrensweisen und -Themenfelder sein könnten. Ich glaube, daß diese Fragen schon seit langem der Klärung bedürfen; sie haben einen -konkreten Anlaß und bergen ein erhebliches Streitpotential. Von einem akademischen Standpunkt, der Philosophie als mehr oder minder »strenge Wissenschaft« begreift, als autonomen Diskurs mit akkumulierendem Erkenntnisstand, ausgewiesenen Forschungsfeldern und methodisch kontrollierten Verfahrensweisen, kann es soetwas wie eine Laienphilosophie überhaupt nicht geben. Sie wäre nach der vollständigen Professionalisierung der Philosophie in den letzten zweihundert Jahren nur mehr ein Widerspruch in sich, bloß krudes Dilettantentum, Hobby-Denkerei, bestenfalls »Popularphilosophie«. Ich verzichte darauf, den Spieß umzudrehen und polemisch-kritisch nach den Voraussetzungen, den Ergebnissen und dem Wert der Universitätsphilosophie zu fragen. Aber ich möchte den Versuch machen, die Laienphilosophie zu verteidigen und zu zeigen, daß sie ihre eigene, wohlfundierte und von einer langen Tadition zehrende Berechtigung besitzt und auf eine Zukunft als wertvolle und wichtige »zweite philosophische Kultur« hoffen darf. Vielleicht erweist es sich, daß die Laienphilosophie sogar den eigentlichen, lebendigen Sinn, das vitale Herz der Philosophie birgt, die ja, wie ihr Name schon sagt, immer eine »Liebhaberei« gewesen ist, nicht der Besitz von, sondern die Liebe zur Weisheit.

Sprechen wir von den Fakten. Aus vielerlei Gründen, die hier unerörtert bleiben müssen, wächst bei uns seit einem knappen Jahrzehnt das Interesse eines breiteren, intellektuell aufgeschlossenen und neugierigen Laienpublikums an der Philosophie. Ich spreche nicht von einer Massenbewegung, aber wenn man sich den Buchmarkt ansieht, das Zeitschriftenwesen, die  Angebote der Erwachsenenbildung, so kann man nicht abstreiten, daß dieses Publikum und dieses Interesse existiert. »Philosophische Cafés« und »Philosophische Praxen« mögen vielleicht eine vorübergehende Modeerscheinung sein, das Interesse an philosophischer Bildung scheint aber tatsächlich eine stabile Größe zu bleiben. Es trat erstmals aus dem Schatten des Verborgenen, als ein recht mittelmäßiges, vergleichsweise ebenso gut gemeintes wie schlecht gemachtes Jugendbelehrungsbuch namens »Sofie’s Welt« innerhalb von Monaten raketengleich die Bestsellerlisten emporschoß. Gemessen an den Auflagezahlen ein geradezu märchenhafter Erfolg für ein Buch, daß sich der Geschichte der Philosophie widmet. Philosophie als Bestseller? Wann hat es das je gegeben? Wie ging das zu? Inzwischen sind Hunderte von Philosophen-Porträts, populäre Einführungen und Monographien zu philosophischen Themen erschienen; Zeitschriften für philosophierende Laien haben sich etabliert, und selbst in’s Fernsehen, das gedankenfernste Medium, ist die Philosophie vorgedrungen. Auch die einschlägigen Bildungsangebote der Volkshochschulen, wo sie denn bereitgehalten werden, registrieren stabilen, langsam aber stetig wachsenden Zuspruch. Die professionelle Universitätsphilosophie, traditionell gewohnt, sich gegen die Zudringlichkeit öffentlichen Interesses wirksam abzuschließen, gerät allmählich in ein Dilemma. Wie lange kann man noch arrogant auf das Publikumsinteresse herabschauen, ohne sich selbst zu gefährden? Gewohnt, nur für die Kollegen der eigenen scientific community zu publizieren und auf exklusiven Fach-Kongressen und in noch exklusiveren Fach-Magazinen sich gegenseitig mit kleinteiligen, hoch-elaborierten Spezialuntersuchungen zu unterhalten, weiß die Universitätsphilosophie mit einem Laienpublikum wenig anzufangen, und schon gar nicht auf sein Interesse zu antworten.

Der Grund hierfür ist nicht böser Wille oder Arroganz, wenn letztere auch mit im Spiel sein kann. Die Universitätsphilosophie ist, wenigstens in Deutschland, gar nicht fähig, mit einem intellektuellen Laienpublikum zu kommunizieren. Das hat innere, geschichtliche und strukturelle Gründe. Der professionellen Gegenwartsphilosophie in Europa wird seit längerem, wie selbst manche ihrer Vertreter beklagen, die Luft von einem monströsen und grotesken Alexandrinismus abgeschnürt. Dieser Begriff, auf die monumentale Bibliothek der Antike in der Stadt Alexandria anspielend, bezeichnet das Syndrom einer Wissenschaft, die an ihrer eigenen Überproduktion erstickt. Der philosophische Diskurs leidet an der Unfähigkeit, zu vergessen. Während sich etwa die Naturwissenschaften des Ballastes ihrer eigenen Geschichte regelmäßig entledigen, muß die Philosophie den ihren unentwegt mit sich herumschleppen, auch wenn sie unter der Last ihrer eigenen Gelehrsamkeit beinahe zusammenbricht. Professionelle Publikationen sind heute, wenn es sich nicht um Spezialuntersuchungen handelt, unweigerlich Bücher über Bücher über Bücher, Meta-Meta-Meta-Kritiken und -kommentare. Der Großteil der in Deutschland produzierten Dissertationen diskutiert, wie A. das Werk B.s begreift, der die Lektüren C.s von D. und E. mit denen F.s von H., I. und J. vergleicht und sie mit seiner Aufassung der Bücher von K., L. und M. konfrontiert, um zu dem Schluß zu kommen, daß N., O. und P. sich in fundamentalem Irrtum befanden, als sie die Theorien Q.s über R. denen von S. und T. über U. bzw. V. und W. vorzogen. (Diese Auffassung stützen sie, indem sie die Auseinandersetzungen zwischen X. und Y. heranziehen, die bekanntlich auf dem Werk von Z. basieren.)

Sehen wir den Dingen ins Auge: Ohne ein mindestens fünf- oder sechsjähriges intensives Universitätsstudium, in dem Hunderte von Büchern und tausende von Aufsätzen durchgearbeitet sowie einige fünfzig Referate, Haus- und Examensarbeiten selbst angefertigt werden müssen, sind solche Publikationen nicht mehr nachzuvollziehen. Dieser Alexandrinismus oder, wie Herbert Schnädelbach, ein prominenter Repräsentant der Universitätsphilosophie, es nannte, dieser »morbus hermeneuticus« (= etwa: krankhafter Auslegungszwang) ist in der Universitätsphilosophie absolut dominierend und einer Reform, fürchte ich, kaum fähig. Die Struktur unseres Hochschulwesens sorgt dafür, daß das System von Forschung und Lehre als hoch-produktive Maschine funktioniert, die fortwährend die gewaltige Abraumhalde der Sekundär- und Tertiärliteratur um neue Textmassen erweitert. Selbst Professoren des Fachs sind heute im Verlaufe ihrer Karriere kaum noch in der Lage, über alle existierenden Strömungen, Richtungen, Theorieansätze und Sonderdiskurse den Überblick zu behalten.

Verstehen Sie mich recht: dies ist keine Polemik. Ob das so sein und bleiben muß oder ob es Möglichkeiten der Reform oder eines Wissenschaftskulturwandels gibt, möchte ich nicht beurteilen. Ich konstatiere die Lage lediglich, um die Kluft zu markieren, die es dem Laieninteresse nahezu unmöglich macht, mit der Universitätsphilosophie auf Augenhöhe zu kommunizieren. Diese hat sich zu einer weitgehend isolierten, hoch-spezialisierten Expertenkultur ausdifferenziert, die nur in seltensten Ausnahmefällen noch einen Austausch mit der sie umgebenden intellektuellen Kultur pflegt. Daraus resultiert ein Teil der Probleme, Laienphilosophie zu definieren und ihr, womöglich, einen eigenen Platz in der geistigen Kultur unseres Landes zu erobern. In Einrichtungen der Erwachsenenbildung, wie etwa der VHS, stellt sich die Frage ganz konkret als didaktische und curriculäre: Was wollen wir mit unseren philosophischen Bildungsangeboten erreichen? Sollen wir eine »Philosophie light« vermitteln zu heruntergesetzten Preisen und verbilligten Ansprüchen? Wollen wir unsere Hörerinnen und Hörer zu Schmalspur-Akademikern oder halbgebildeten Bildungsphilistern ausbilden? Sind philosophische Volkshochschulkurse das intellektuelle Äquivalent zum Tourismus, Kaffeefahrten ins Reich des Geistes? All das sicher nicht. Was aber dann?

Einen Hinweis gibt uns die nähere Untersuchung des philosophischen Laieninteresses. Wonach fragen -philosophierende Laien? Aus welchen Motiven und mit welchen Erwartungen wenden sie sich philosophischen Themen zu? Besteht überhaupt Kongruenz oder wenigstens Analogie zwischen professionellen, universitären Interessen und denen nachdenklicher Laien? Ich glaube, im wesentlichen ist das nicht der Fall. Ausgangspunkt des Laieninteresses und zugleich sein Zielgebiet ist nach meiner Hypothese das eigene Leben. Der Satz des jungen Schopenhauers – »Das Leben ist eine mißliche Sache. Ich möchte es damit hinbringen, über es nachzudenken.« – könnte als allgemeinen Maxime der Laienphilosophie gelten. Wie Montaigne und in seiner Tradition wollen philosophierende Laien vor allem Selbstaufklärung, Existenzerhellung, Weltorientierung, intellektuelle Lebensintensivierung. Ihre geistigen Interessen sind, jedenfalls im weitesten Sinne, Lebensinteressen. Nichts unterscheidet Laienphilosophie mehr von der universitären, als dies. Das letztlich noch immer auf der klassischen Metaphysik und einem transzendentalen Vernunft-Universalismus basierende Selbstverständnis letzterer weist so etwas wie »Lebensbedeutsamkeit« entschieden von sich.

Der Philosoph Hans Blumenberg – ansonsten klug und schätzenswert – schmetterte noch vor wenigen Jahren, kurz vor seinem Tod, mit herrischer Ordinarien-Geste jede Forderung nach Lebensbedeutsamkeit der Philosophie strikt als banausisch und unphilosophisch ab. Auf den von der Universitätsphilosophie besiedelten Abstraktionsebenen kommt so etwas Empirisches, Chaotisches und Kontingentes wie »das Leben« gar nicht vor. Ein junger Student, der im Seminar fragen wollte, was denn das dort Verhandelte wohl mit dem realen Leben zu tun hätte, erntete allenfalls Stirnrunzeln und mitleidige Blicke, hätte er damit doch unter Beweis gestellt, daß er von seinem Fach keinen Schimmer besitzt. Als ebenso unprofessionell und banausisch würde man heute Schopenhauers und Nietzsches Forderung abweisen, ein Philosoph möge mit seinem ganzen eigenen Leben, gewissermaßen performativ, für seine Philosophie einstehen und sie nach außen wahrnehmbar machen. Die eigene Philosophie zu leben? Der staatlich bestallte, verbeamtete Berufsdenker von heute würde über dieses Ansinnen mit dem Kopf schütteln. Wie soll denn das auch gehen – wo das meiste an der Gegenwartsphilosophie mit dem Leben doch nichts zu tun hat und gar nicht lebbar ist! Ein Musterfall dieser entfremdeten, spießerhaften Form der Professionalisierung war der Begründer der Phänomenologie Edmund Husserl, der ausgerechnet in einer Schrift zur Kritik der Entfremdung der Wissenschaften von der Lebenswelt das folgende zum besten gab:

»Wir stiften in uns… eine besondere habituelle Interessenrichtung, mit einer gewissen berufsartigen Einstellung, zu welcher eine besondere ‘Berufszeit’ gehört. Wie sonst, so erweist sich auch hier: wenn wir eines unserer habituellen Interessen aktualisieren, somit in unserer -Berufstätigkeit (im Arbeitsvollzug) sind, haben wir eine Haltung der Epoché hinsichtlich unserer anderen, aber doch uns eigenen und fortbestehenden Lebensinteressen. Jedes hat ‘seine Zeit’, und wir sagen im Wechsel dann etwa ‘nun ist es an der Zeit, zur Sitzung, zur Wahl zu gehen’ und dergleichen. Im speziellen Sinne nennen wir zwar Wissenschaft, Kunst, militärischen Dienst usw. unseren ‘Beruf’; aber als normale Menschen sind wir beständig (in einem erweiterten Sinne) zugleich in mannigfaltigen ‘Berufen’…: zugleich Familienvater, Bürger usw. Jeder solche Beruf hat seine Zeit aktualisierender Betätigungen. Hernach ordnet sich auch jenes neugestiftete Berufsinteresse (sc. des -Phänomenologen, R.H.)… den sonstigen Lebensinteressen… ein und hat jeweils seine Zeit innerhalb der einen personalen Zeit… Allerdings diese Gleichstellung der neuen Wissenschaft mit allen ‘bürgerlichen’ Berufen, ja selbst schon mit den objektiven Wissenschaften, bedeutet eine Art Bagatellisierung, eine Mißachtung des größten Wertunterschiedes, den es unter Wissenschaften überhaupt geben kann. […] Bei solcher Betrachtungsweise sieht es ja so aus, als ob da wieder einmal ein neues rein theoretisches Interesse, eine neue ‘Wissenschaft’… etabliert werden soll, entweder betrieben als ein … intellektualistisches Spiel oder als eine höherstufige intellektuelle Technik im Dienst der positiven Wissenschaften, für sie nützlich, die wiederum selbst ihren einzigen rellen Wert in Nützlichkeiten des Lebens haben. Gegen Unterschiebungen flüchtiger Leser und Hörer, die schließlich nur hören, was sie hören wollen, ist man machtlos, aber sie sind auch das gleichgültige Massenpublikum des Philosophen. Die Wenigen, für die man spricht, werden einen solchen Verdacht zurückzuhalten verstehen…« (Krisis,§ 35, S. 139f)

Husserl macht den Philosophen unfreiwillig zu einer traurigen Witzfigur: einem Bürokraten und Spießer, der bei Büroschluß die Ärmelschoner abstreift und sich den sogenannten »sonstigen Lebensinteressen« zuwendet, die offenbar mit seiner Philosophie nicht das geringste zu tun haben. Gemütlich schlüpft er in seine Pantoffel, liest beim Bier die Abendzeitung und seufzt, wohlig einschlummernd: »Ein Jegliches hat seine Zeit« – und die Philosophie hat die ihrige erst wieder nach Bürobeginn, weil ein Jegliches in diesem Fall vor allem seine bezahlte Arbeitszeit hat. Da kommt es schon gar nicht mehr darauf an, daß Husserl das Wort des Predigers aus dem Buch Kohelet, alles habe seine Zeit, vollkommen mißversteht. Mit dem Wort wird mitnichten spießig-behagliches Zeitmanagement anempfohlen, sondern darauf hingewiesen, daß unter dem Himmel alles eitel ist und der Zeitpunkt schon prädestiniert, an dem es zu Staub wird. Kurzum: Alles menschliche Treiben hat seine Zeit, zu der es zugrunde geht. Die »Philosophie als strenge Wissenschaft« hatte auch ihre Zeit. Manche halten sie für abgelaufen. Das »gleichgültige Massenpublikum«, d. h. das Publikum, das dem Herrn Professor gleichgültig ist, weil er »für die Wenigen spricht«, wendet sich jedenfalls mit Schaudern ab, enttäuscht wahrscheinlich, weil es sich unter Philosophie immer etwas anderes vorgestellt hat. Es sagt sich vielleicht – ich verwende ein Zitat –

»Wozu eigentlich Philosophie studieren, wenn alles, was sie für Dich tut, darin besteht, Dich zu befähigen, Dich einigermaßen plausibel über gewisse abstruse Fragen der Logik usw. zu äußern, und wenn sie nicht Dein Denken über die wichtigen Fragen des täglichen Lebens verbessert, wenn sie Dir  nicht hilft, Dir bewußter zu werden als irgendein Journalist …« (Wittgenstein, briefl. Äußerung, zit. n.: Pierre Bourdieu, »Meditationen«, Frankfurt/M. 2001, S. 56f)

Dies sind allerdings nicht die Worte eines banausischen Laien. Sie schrieb der in der Universitätsphilosophie der Gegenwart so geschätzte Cambridge-Professor Ludwig Wittgenstein. In der Tat muß sich in Wahrheit niemand schämen, nach einer lebensbedeutsamen Philosophie zu fragen. Die Frage ist sogar gut, berechtigt und fruchtbar. In der Geschichte des europäischen Denkens besitzt die praktische, lebensbezogene Philosophie, oder anders ausgedrückt: die Philosophie als Lebensform, eine tausendjährige, mächtige und ehrwürdige Tradition. Die bedeutendsten philosophischen Schulen und Sekten des griechischen und römischen Altertums, Sokratiker, Kyniker, Epikureer, Stoiker und Skeptiker, lehrten nämlich genau dies und vor allem anderen dies: wie auf philosophische Weise zu leben sei. Die Lehren und Werke Zenons, Epikurs, Ciceros, Senecas, Epiktets, Plutarchs u. v. a. betrafen das normale, alltägliche Leben und seine Probleme. Sie entwarfen Strategien, es zu bestehen und auszuhalten, fragten nach seinem Gelingen, seinen Bedrohungen und Hinfälligkeiten, befaßten sich mit der Bewahrung von Freiheit und Würde, mit Selbstvervolkommnung, Askese und innerer Balance, dem Umgang mit den Lüsten und den Grausamkeiten des Lebens, mit seiner Spiritualität, mit der rechten Haltung gegenüber Gott und der Welt. Zur Strafe für ihre Lebensbedeutsamkeit werden diese Autoren von der akademischen Philosophie-Historie als »Popularphilosophen« in die Sekundarität verbannt.

Der philosophische Diskurs über das gelingende philosophische Leben wurde mit dem Ende der Spätantike ersetzt durch Theologie und Morallehre. Der christliche Diskurs der Frömmigkeit und des gottfälligen Lebens verdrängte die stoische und epikureische Lebensklugheit. Die Philosophie wandte sich unter dem Druck der christlichen Kultur den großen Fragen der Metaphysik – nach Gott, dem Sein und der göttlichen Offenbarung in der Natur – zu. Ontologie, Logik und Erkenntnistheorie entwickelten sich im Kampf von Theologie und Philosophie um Legitimation und Deutungshoheit. Doch die Tradition des philosophischen Lebens war nur unterdrückt, nicht vernichtet. Die Renaissance, die programmatisch die Wiedergeburt der antiken Ideale auf neuer humanistischer Grundlage betrieb, schuf neue Voraussetzungen. Der erste große deutsche Philosoph an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, Nikolaus von Kues, entwickelte in seinen Dialogen die Figur des »idiota«, des klugen Privatmannes, der auf der Basis einer selbstbewußten »docta ignorantia«, einer »belehrten Unwissenheit«, philosophierte und theologische doctores wie Universitäts-Magister übertraf. Humanistische Neo-Stoiker oder Neo-Epikureer wie Montaigne oder Lipsius entdeckten darauf die Philosophie als Lebensform für Privatleute wieder und führten sie zu einer neuen, respektablen Blüte. Allein, diese Lebensform geriet erneut in den Schatten, als mit der Moderne der Prozeß der akademischen Professionalisierung einsetzte, in dessen Verlauf die docta ignorantia des philosophierenden Laien marginalisiert wurde. Aber immerhin hielt noch Immanuel Kant, Musterfall und Protagonist der Professionalisierung und dezidierter »Schulphilosoph«, nicht etwa die universitäre Forschung und Lehre, sondern die philosophische Lebensweise für die wahre, eigentliche Idee der Philosophie:

»Die alten griechischen Philosophen wie Epicur, Zeno, Sokrates etc. […] sind also der wahren Idee des Philosophen weit treuer geblieben, als in den neueren Zeiten geschehen ist […] Wann willst du anfangen, tugendhaft zu leben, sagte Plato zu einem alten Mann, der ihm erzählte, daß er Vorlesungen über die Tugend anhörte. – Man muß doch nicht immer spekulieren, sondern auch einmal an die Ausübung denken. Allein, heute hält man den für einen Schwärmer, der so lebt, wie er lehrt.« (Immanuel Kant, »Vorlesungen über die philosophische Enzyklopädie«, zit. n.: Pierre Hadot, »Wege zur Weisheit«, Frankfurt/M 1999)

Der mächtige Grundstrom in der Tradition, der Philosophie als Lebensweise propagierte und an der Forderung nach ihrer Lebensbedeutsamkeit festhielt, wurde im 19. und 20. Jh. immer mehr an den Rand gedrängt, ist aber andererseits nie gänzlich abgerissen. Universitätsferne, freie Denker wie Rousseau, Feuerbach, -Kierkegaard, Schopenhauer, Emerson, Nietzsche, W. James, Simmel, Wittgenstein, Sartre, Camus u. a. haben ihn durch ihr Leben und Werk weitergetragen. Wenn eine moderne Laienphilosophie sich heute neben der Universitätsphilosophie als eine Art »zweite  philosophische Kultur« etablieren will, so wird sie, glaube ich, auf die Tragfähigkeit dieser Tradition vertrauen. Laien sind, wenn sie sich nicht einschüchtern lassen, durchaus frei darin, sich aus der Philosophie und ihrem reichhaltigen Literaturkanon zu bedienen, um wie Montaigne zu Experten und Forschern eben auf jenem Gebiet zu werden, daß die Universitätsphilosophie verschmäht und auch nicht erreichen kann: dem Gebiet ihres Selbst, ihrer individuellen Existenz, ihrem Leben gemeinsam mit anderen. Wer will behaupten, die Philosophie hätte zur Aufhellung von Lebensproblemen, zur Angst- und Konfliktbewältigung, zur Führung eines wachen, intensiven und erfüllten Lebens insgesamt nichts beizutragen? Der würde seinem Fach wahrlich ein schlechtes Zeugnis ausstellen und Zweifel daran wecken, ob es überhaupt zu etwas gut ist. Wer die Weise, wie sich Laien der Philosophie bedienen, durchweg als Mißbrauch denunzieren will, geht selber von einem -szientistischen Vorurteil und einer logozentrischen Vernunft-Metaphysik aus, die längst einer fundamentalen Kritik unterzogen wurde und heute gar nicht mehr haltbar ist.

Eine neue selbstbewußte Laienphilosophie beansprucht ein Gebiet, das Grenzen zu zwei benachbarten Diskursfeldern besitzt. Die eine Grenze verläuft, wie angedeutet, zwischen ihr und der akademischen Philosophie. Diese Grenze bleibt, aus der Sicht der Laien, zum professionellen Diskurs hin offen. Das Verhältnis der Laien zur Universität ist weder durch aggressive Kritik und Polemik, noch durch Konkurrenz oder auch nur Ignoranz gekennzeichnet. Vielleicht mit Hilfe geeigneter Vermittler wird man sich aus ihrem Fundus bedienen, wo sie Nützliches zu bieten hat. Umgekehrt, aus der Sicht der akademischen Welt, steht die Grenze allerdings nicht in gleicher Weise offen. Die  geschlossene Ordnung des Diskurses verbietet es, daß Laien das Wort ergreifen, publizieren, an öffentlichen Debatten teilnehmen, ohne durch Absolvierung eines Hochschulstudiums legitimiert zu sein. Laien befinden sich prinzipiell, wie -Foucault sagte, im »wilden Außen« des Diskurses, sie stehen außerhalb seiner »Wahrheit«. Als universitäre Disziplin spricht die -Philosophie, wie Husserl sagt, zu wenigen. Hören wird sie auf niemanden außerhalb ihres Ghettos. Man wird das hinnehmen müssen, solange bis sich die Laienphilosophie eigene Institutionen, Diskussions-Foren und Publikationsorgane geschaffen hat. Ansätze gibt es bereits.

Das Verhältnis zur anderen Nachbarschaft ist undurchsichtiger, weil der Grenzverlauf nicht schon durch institutionalisierte Diskurs-Ordnungen geklärt ist. Ich meine die notwendige Abrenzung der Laienphilosophie gegen ein gewisses schlechtes Diletanttentum. Dieses existiert natürlich weniger als ein Diskurs, sondern als stets drohende Gefahr. Die Befreiung von akademischen Standards, Regeln und Praktiken schließt nicht die Freigabe jeder Narretei auf eigene Faust ein. Obwohl frei von esoterischen Zügen und auf Lebensbedeutsamkeit zielend, ist auch Laienphilosophie nichts für jedermann. Sie  erfordert neben den von Montaigne reklamierten Gütern Ruhe, Muße, Sicherheit und Freiheit auch Talent, Anstrengung, Disziplin und Ausdauer. Sie ist in gewisser Weise mit einer Transformation des Lebensstils verbunden und, wer wollte das leugnen, mit einiger Arbeit. Die wilde, unkontrollierte und unausgewiesene Meinungshuberei, wie sie in manchen sogenannten »Philosophischen Cafés« betrieben wird, hat mit Philosophie wenig zu tun. Der erweiterte Kunstbegriff Josef Beuys’, wonach jeder Mensch ein Künstler sei, würde ich auf die Philosophie nicht übertragen wollen. Nicht jeder, der bei sich schon einmal einen Gedanken begrübelt hat, ist schon ein Philosoph. Philosophie muß von Doxosophie unterschieden werden, dem Begriff, mit dem schon Platon eine gewisse denkfaule Meinungsliebhaberei gekennzeichnet hat. Philosophische Talente haben in der Regel wenig Meinungen und wissen sehr wenig. Oft wissen sie noch nicht einmal, ob sie das wenige, was sie genau wissen, überhaupt glauben sollen…- – Doxósophos (von Schleiermacher mit »dünkelweise« übersetzt) ist nach Platon einer, der nur über angelesene Halbbildung verfügt. Auch wir an den VHS laufen natürlich Gefahr, lediglich solche Halbbildung vermitteln. Gewiß kann man Philosophie-Kurse auch belegen, um sich, nach einem Ausdruck Hegels, eine »Galerie toter Meinungen« anzulegen, mit der man das Wohnzimmer seiner geläufigen Ansichten möbliert. Nun werden wir niemanden, auch den nicht, dem es um solche Art Bildung zu tun ist, abweisen, aber sie trifft nicht das, was Laienphilosophie im hier vorgeschlagenen Sinne ausmacht.

Die Abgrenzung gegenüber einem schlechten Dilettantentum wäre unvollständig, wenn sie nicht auch den Kitsch ausschlösse. In der Tat gibt es auch in der Philosophie eine Art Kitsch, der sich zu ihr verhält wie das Kunsthandwerk zur Kunst. Dabei handelt es sich um einen neuerdings verbreiteten, anbiedernden Lebenskunst-Kitsch, der unter hochtrabenden Titeln wie »Grundlegung einer philosophischen Lebenskunst« eine  Melange trivaler Allerweltsweisheiten und philosophischer Allzweck-Wahrheiten zusammenrührt. Das Resultat eignet sich hervorragend zur Ideologie eines besserverdienenden, mittelstandsgrünen Toscana-Rotwein-Hedonismus, indem alles, was zum leeren Himmel schreit, in die Behaglichkeit eines  ästhetizistischen savoir vivre eingeholt und schadstofffrei entsorgt wird. Auch wenn es der Wort- und Marktführer dieser Branche inzwischen selbst zu einem Lehrstuhl gebracht hat, ist diese Art von Dilettantentum schwer erträglich. Die Idee des philosophischen Lebens kann nach dem Horror und den dehumanisierenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht mehr von der Fiktion einer wohlgeschlossenen Totalität allseits gelingenden Lebens ausgehen. Mit Adorno ist davon auszugehen, daß auch heute Philosophie immer noch eine »nach Auschwitz« sein muß. Der Begriff des »Glücks« ist wie der der »Lebenskunst« verdächtig geworden. Lebenskunst traut man denjenigen zu, die anstelle philosophische Bücher Werke wie »1ooo legale Steuertricks« oder »Geiz ist geil« im Regal stehen haben. Unter den heutigen globalisierten Marktbedingungen ist »Lebenskunst« als Begriff oder Ideal kontaminiert von einem vulgären Hedonismus, einem ausbeuterischen Genießertum und einer gewissen schäbigen Lebensfreude, die gerade dort grassiert, wo nicht gedacht wird. Den Begriff »philosophische Lebenskunst« würde ich daher lieber vermeiden. Die souci de soi, dieses von Michel Foucault angeregte Projekt einer »Selbstsorge« als asketische Übung und philosophische Lebenspraxis, mutierte unter deutschen Proselyten unter dem Etikett der »Lebenskunst« zu einem banalen narzißtischen Egozentrismus, für den es keiner Philosophie bedarf. Dafür genügen popularpsychologische Lebensratgeber und Periodika wie »Schöner Wohnen« und »essen und trinken«.

Doch damit genug der Abgrenzungen. Die Frage kann jetzt konkreter gestellt werden: Wo zwischen professionellem akademischen Diskurs und unverbindlichem, schlechten Dilettantismus könnte ein genuines Feld der Laienphilosophie etabliert werden? Welche Themen und Fragestellungen, welche Verfahrensweisen und didaktischen Ziele könnten mit ihr verknüpft werden? Ich möchte, in aller Kürze, dazu einige Vorschläge skizzieren, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, ohne theoretische Absicherung. Ich bin nicht im Besitz eines vollständig ausgearbeiteten Konzeptes, aber ich finde, es muß einmal ein Anfang gemacht werden, wie unsicher und versuchsweise auch immer.

Laienphilosophie befaßt sich mit dem, was Immanuel Kant der Schulphilosophie als »Weltweisheit« gegenüberstellte. Sie erhebt weder den Anspruch auf strenge Wissenschaft, noch unterstellt sie sich unbefragt deren methodischen Regeln, Verfahrensweisen und Diskurs-Ordnungen. Ihr Ziel ist weder spezifische Forschung noch zweck-freie Erkenntnis-Akkumulation. Sie bietet dem Einzelnen, dem intellektuell aufgeschlossenen, neugierigen -Privatmenschen vielmehr Anregungen, Anleitungen und Übungen in philosophischem Leben. Im Gegensatz zur Universitätsphilosophie ist hier Lebensbedeutsamkeit – diese im allerweitesten Sinne – gerade das erste Postulat und die formale Klammer, die alle denkbaren Aktivitäten zusammenhält. Sie besinnt sich auf die spätantiken Traditionen philosophischer Lebenspraxis und deren Grundzüge: Existenzerhellung, Selbstaufklärung, Wahrnehmungs- und Erfahrungskultivierung, Angst- und Konfliktbewältigung, Lebensintensivierung und Alltagsspiritualität. Ihr Ziel besteht in der Formung und Stilisierung eines ästhetischen, moralischen und sozialen, vielleicht auch religiösen Ethos der persönlichen Existenz gemeinsam mit den Anderen, befaßt sich mit der reflexiven Durcharbeitung der eigenen Biographie und bemüht sich um Orientierung über die Potentiale, Kraftfelder und Entwicklungslinien des eigenen Daseins. In einem gewissen, spezifischen, von den Bemühungen der -Psychologie und Psychoanalyse abzugrenzendem Sinne kann lebenspraktische Philosophie als eine Art von existentieller Prävention oder Therapie begriffen werden.

Die Intransigenz des Adorno’schen Verdiktes, es gäbe kein richtiges Leben im falschen, läßt sich vernünftigerweise sowenig durchhalten wie ihr entgegengesetztes Extrem, ein besinnungsloser oder zynischer Hedonismus. Gewiß ist die Idyllik des epikureischen Gartens oder des Turms von Montaigne heute fragwürdig. Philosophie ist nicht dazu da, die Risse, Verwerfungen und Abgründe der Existenz zu verdecken und verlorenen Ganzheiten und transzendentalen Harmonien nachzujagen, deren Behauptung heute nur noch ideologisch sein könnte. Glaube, Liebe und Hoffnung bleiben Domänen des Religiösen. Aber die ungeheure, in ihren Auswirkungen auf das Menschliche noch gar nicht absehbare soziale, politische, ökonomische und wissenschaftstechnologische Revolutionierung und Transformation unserer Lebenswelt und unserer Existenzbedingungen, mit der wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts konfrontiert werden, macht kritische Diagnose, intellektuelle Distanzierung und philosophische Reflexion lebensnotwendig. Das gewachsene Interesse an philosophischer Orientierung wird vermutlich aus dieser Situation entsprungen sein, die von vielen Menschen als Krise empfunden wird. Selten war der Bedarf an kritischer philosophischer Vergewisserung und Orientierung größer als zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Die scheinbar unvermeidlichen, von der Gewalt der Systeme, der anonymen gesellschaftlichen Mächte und ihrer Eigendynamik erzwungenen Entwicklungen arbeiten in die gleiche Richtung: sie bedrohen uns mit einer umfassenden Reduktion des Humanen. Dies zu behaupten hat nichts mit apokalyptischer Kulturkritik zu tun und verkennt nicht die Möglichkeiten und Chancen, die mit jeder Fortentwicklung sich ebenfalls bieten mögen. Aber es sind die Gefahren, die die philosophische Kritik auf den Plan rufen. Solche Gefahren lauern in der Pervertierung und Inversion unseres gelebten Zeitempfindens; in den ökonomischen und sozialen Verwerfungen einer Gesellschaft ohne Arbeit; in der Bürokratisierung, Kommerzialisierung und industriellen Serialisierung unserer Lebensstile; in der Verkrüppelung und Verkümmerung unserer Sinne unter dem Reizterror medialer Simulakren und Hyper-Realitäten; schließlich in der Bedrohung des Überschusses, den das Menschliche gegenüber dem Verfügbaren, dem Kalkulierbaren und der Verwertung darstellt. Die marxistische Entfremdungskritik hat dies dem Kapitalismus seit jeher nachgesagt. Doch durch den ungeheuren, epochalen Schub der global wirksamen wissenschaftlich-technologischen Entwicklung haben diese Reduktionen eine neue Qualität erreicht, mit der eine allgemeine, alle -elementaren existentiellen Bezüge betreffende Verarmung und Verkrüppelung menschlicher Möglichkeiten einhergeht.

Gegen die Besinnungslosigkeit, die sich unter dem Bombardement frohsinns-faschistischer Spaß-Exzesse, in der Hetze und Hektik der Konkurrenz um Karrieren, Konsum und Sicherheit einstellen muß, stellt die Geste des Montaigne’schen Rückzugs, die reflektierende Distanznahme, das nachdenklichen Innehalten und die intellektuelle Selbstsorge einen ersten therapeutischen Schritt dar auf einem Weg, der nicht zur Heilung führt, aber doch Gelegenheit zum Atemholen verschafft und Möglichkeiten eröffnet, dem -Hamsterrad frenetischen Mit-Tuns zu entkommen. Wer sich um eine philosophische Lebensweise bemüht, dem kann man nicht abnehmen, sich den zeitlichen Raum hierfür zu erobern. Ohne eine gewisse Subversion des habituellen, dominierenden Lebensstiles ist das nicht zu haben – schon Montaigne hatte größte Mühe damit. Jede Philosophie, gleich welcher Art, verlangt scholé, Muße, Freiheit vom Getriebensein, dem allgemeinen Beschleunigungsterror. Hegel zufolge ist die Philosophie der Sonntag des Lebens. Seit der Zeit der großen philosophischen Schulen der Antike verlangt die Hinwendung zur Philosophie eine Veränderung des Lebensstils. Kein sektiererisches Erweckungserlebnis, keine moralische Generalüberholung des eigenen Charakters, sondern Mut, -Prioritäten zu setzen, den Alltag von notorischen Zeitfressern zu entrümpeln, um Platz zum Philosophieren zu schaffen. Ob man angesichts drängender Forderungen, die Beruf, Familie und Gesellschaft stellen, die nötige Rigorosität dafür aufbringt, wird davon abhängen, wie wichtig man die eigene Existenz nimmt. Die Tatsache, daß wir nur ein einziges Leben besitzen und dieses daher unendlich wichtig zu nehmen wäre, ist zwar seit Søren Kierkegaard des öfteren erwähnt worden, hat sich aber noch nicht weit herumgesprochen.

2. Gegenstand der Laienphilosophie ist wesentlich das eigene Leben und Leben-Können. Ihr Reichtum entspricht der Vielfalt und Mannigfaltigkeit des Lebens selbst. Das bedeutet: das Material, die Anlässe und Gegenstände des Philosophierens entnimmt sie der eigenen Lebenswelt, dem gelebten Alltag, dem weiten Umkreis des eigenen In-der-Welt-Seins, der sich aufschließt, wenn der philosophierende Blick auf ihn fällt. Wer behauptet, dies sei kein würdiges Objekt der Forschung, der muß aufgehört haben, das Leben verwirrend, rätselhaft und undurchsichtig zu finden. Wen das Wechselspiel des eigenen Lebens nicht beunruhigt und fasziniert, wem die wunderliche, oft windungsreiche, romanhafte eigene Biographie nicht vor das Rätsel der Identität stellt und wer sich in der chaotisch-unübersichtlichen Fülle der Welt nicht wenigstens gelegentlich wie ein Fremder fühlt, dem es an Orientierung und Übersicht mangelt, – der benötigt wahrscheinlich keine Philosophie. Wer ohne Distanz, sozusagen ohne »Spiel«, paßgenau und lückenlos in die Wirklichkeit eingepaßt ist, hat für sie kaum Verwendung. Vielleicht muß man mindestens in einem Winkel seines Herzens ein wenig ein Taugenichts sein, ein Hans-guck-in-die-Luft, ein Träumer und Tüftler, um Talent für’s Philosophieren zu besitzen. Seit den sokratischen Anfängen und außerhalb des geschlossenen Kreises der akademischen Würdenträger mit ihrem wichtigtuerischen Ernst und ihrer hohlen Seriösität haftet jedem echten lebensbezogenen Philosophieren etwas Eckensteherisches an, eine gewisse nichtsnutzige, tagediebische Neugier und kindlich-subversive Frage-Lust. Förderlich wäre eine leichte Trübung oder Hemmung jenes Sinnes für das Praktische und Pragmatische, das Nützliche und Einträgliche, der den grundsoliden Erwerbsbürger auszeichnet.

Einem methodisch befremdeten Blick erschließt sich, daß unser Alltag von philosophischen Fragen und Themen nur so wimmelt. Man muß ein wenig schielen, einer gewissen Fehlsichtigkeit unterliegen, nicht nur um die neueste Mode des Kaisers zu begutachten, sondern um mit Hilfe einer verschobenen Perspektive das zu erwischen, was die glatte Oberfläche des Alltags für gewöhnlich verbirgt. Schon jedes triviale Ding birgt, wenn man genauer hinsieht, eine philosophische Frage, ein semiologisches Rätsel, einen ontologischen Abgrund. Die Wendungen und Begebenheiten des Lebens offerieren ein ungeheures Feld des Nachdenkens. Diesseits und jenseits der großen, ehrwürdigen Fragen der Ontologie und Metaphysik, der Epistemologie und Moralphilosophie liegen die Probleme, die uns in unserem Leben etwas angehen. Sollte die Philosophie denn gar nichts zu sagen haben über das, was unser aller Leben wesentlich ausmacht, es merk-, frag- und denkwürdig erscheinen läßt? Ich meine Themen wie Freundschaft, Liebe und Ehe, Alter, Krankheit und Sterben, Armut und Reichtum, Luxus, Langeweile und Lust, Angst, Hoffnung, Glaube, Genuß, Askese, Sinnlichkeit oder Sehnsucht, Gewalt, Gewissen und Reue, Ritual, Gewohnheit, Sucht, Freiheit, Humor und Anerkennung, Glücksgefühle, Sport, Körper, Kunst, Spiel, Schlaf, Traum, Schönheit, Sorge oder Selbstwert?

Die philosophische Neugier gräbt den Boden unter den eigenen Füßen auf. Man kann über das Rätsel seines Eigennamens philosophieren, über die Logik des Normalen und Pathologischen, über das ontologische Mysterium der Dinge und ihre luxurierende Semiose, über die Alltagsmythologie der Werbung oder die Rhetorik der Unterhaltungsmedien, über die verborgenen Gesetze der Lektüre oder des Gesprächs genauso wie über Bewußtsein und Seelenleben der Tiere, die Plastizität der gelebten Zeit, das Geheimnis des Spiegelbildes oder das Gedächtnis des Leibes. Gibt unser Erinnerungsvermögen etwa keine Rätsel auf, unsere Orientierung im Raum, der Aufbau unserer sinnlichen Welt, die Wirkung der Musik oder der Wandel der Sehgewohnheiten? Verdient die Art, wie wir mit den Katastrophen, Nichtigkeiten und Glücksmomenten unseres gelebten Lebens umgehen, nicht eine philosophische Reflexion? Was hat es mit dem Lachen und Weinen auf sich, mit Lust, Ekel, Schmerz, Tapferkeit, Treue, Geduld, Männlichkeit und Weiblichkeit, was gibt das Fest zu denken und was all die neuen Geräte, die die Technologie uns geschenkt hat, welche philosophischen Implikationen besitzt die Gastfreundschaft, das Reisen, das Älter-werden, die Lebensgeschichte, die Verzeihung, der Hass, die Grausamkeit, der Selbstzweifel, die Traurigkeit, die Dummheit oder die Neugier? Ist die Transformation des Politischen schon durchschaut, der Zusammenhang von Sozialversicherung und Traum vom ewigen Leben, unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit, die religiöse Bedeutung des Geldes, der Ausschluß und die Ästhetik des Alters, die Erotik der Macht oder der Wandel der Höflichkeitsformen, das Repertoire unserer gesellschaftlichen Rollen, die Angst vor der Stille oder die Genealogie des Bedürfnisses nach Unterhaltung?

Dem Universitätsphilosophen mag eine solche Aufzählung als krude Mixtur, ein willkürlich zusammengeklaubtes Sammelsurium kontingenter, empirischer Alltagselemente erscheinen. Warum sollte man wiedersprechen. Diese Mixtur ist ein Abbild des Lebens selbst, das sich nicht in Systemen entfaltet und nicht methodisch entlang von Maximen gelebt werden kann, weil es das Ereignis der Kontingenz selbst ist. Das Leben ist von einer hartnäckigen, widerspenstigen Konkretheit, die der mühseligen »Arbeit des Begriffs« (Hegel) immer neue Widerstände entgegensetzt. Das in der Abstraktion abgeschiedene Nicht-Identische kehrt als Verdrängtes wieder, grausam oder mit einem Kichern. In den Schatten, die das Licht der Vernunft wirft, sammelt sich das Geröll der Wirklichkeit und wartet, daß wir darüber stolpern. Das Leben selbst ist eine krude Mixtur, es entzieht sich, wo wir es in Rastern fixieren wollen und überfällt uns, wo wir uns sicher wähnen in der Abstraktion. Laienphilosophie, die es mit dem Leben zu tun hat, trägt dem Rechnung. Die Schatten des großen Hegel werden kürzer. Der pan-logische Traum ist ausgeträumt, der Traum vom totalen System, der Traum schließlich von einer transzendentalphänomenologischen Registratur des Wirklichen. Wenn Philosophie, wie Wiilhelm Weischedel meinte, das Programm der radikalen Fraglichkeit ist, wird sie um das Leben nicht herumkommen.

Daraus folgt nicht, daß sie, wie man so sagt, »mitten im Leben steht«. Philosophieren ist eine distanznehmende, randständige, randgängerische Tätigkeit. Die lebenswelt-bezogene Alltagsphilosophie, die den Laien offensteht, entspringt einer Art epoché. Dieses Wort bedeutete bei den antiken Skeptikern ursprünglich Urteilsenthaltung. In der Phänomenologie  besagt es als Fachterminus so etwas wie Einklammerung des für selbstverständlich gehaltenen, elementaren Weltwissens. Normalerweise sind wir durch Sozialisierung und Enkulturation in ein System lebensweltlichen Wissen und auf ihm beruhender Praktiken, Gewohnheiten, Rituale usw. eingelassen. Dieses System trägt uns wie Wasser den Schwimmer, es reduziert die Komplexität des Lebens und erlaubt uns, notfalls sozusagen im Blindflug durch unseren Alltag zu treiben, ohne uns mit Grübeleien, Nachforschungen und womöglich aporetisch verlaufenden Untersuchungen aufzuhalten. Der common sense, das hergebrachte Wissen und die Gewohnheit übernehmen die Navigation. Die Medien sorgen dafür, daß diese Orientierung durch beständige Wiederholung eingeübt und frischgehalten wird. Jede für das praktische Handeln nützliche Komplexitätsreduktion geht notwendig auch mit einer Verarmung, Verengung und Abblendung der Wirklichkeitsfülle einher. Schwierig, aber angezeigt ist die Übung, solche Reduktionsapparate immer wieder einmal außer Funktion zu setzen, um Wahrnehmung und Erfahrung zu intensivieren und der chaotischen Lebensfülle ungeschützt ins Auge zu sehen. Es soll Menschen geben, die ihr ganzes Leben im Blindflug verbringen, bis zum Absturz. Zu den lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten auf Distanz zu gehen, ihre Geltung durch eine epoché einzuklammern, ist die entscheidende und grundlegende Kunst der Laienphilosophie, die einiges an Schulung und Übung verlangt, um ausgebaut werden zu können.

In Bezug auf das Vorangegangene und vor allem das noch Folgende, Konkretere möchte ich zur Sicherheit eine Klarstellung einschalten: Die Rede von der Lebensbedeutsamkeit, von lebensweltlichen Anlässen und lebensbezogenen Applikationen der Philosophie zielt nicht auf deren Trivialisierung und Herabminderung. Wenn ich die unausschöpfliche Vielfalt von Anlässen, Themen und Gegenständen des Philosophierens anspreche, dann keineswegs, um die Laienphilosophie von den Gebieten abzuschneiden, die das traditionelle Feld der theoretischen Philosophie bildeten. Je nach Temperament, Lebensgefühl sowie individueller Art und Weise des In-der-Welt-Seins können sich »Laienphilosophen« genauso wie professionelle den großen, nie bewältigten Fragen des Seins und des Nichts, der Transzendenz, des Wissens, der Endlichkeit,  der Möglichkeitsbedingungen und Formen des Religiösen, Fragen nach Moral, Ethik, Recht und Politik zuwenden. Es besteht keine Empfehlung, sich auf das Nächstliegende und Alltägliche zu begrenzen. Lediglich von ihm auszugehen ist charakteristisch für Laienphilosophie. Der entscheidende Unterschied zur Universitätsphiosophie besteht darin, daß wir es nicht auf die Vermehrung der Diskurse, auf Publikation und wissenschaftliche Debatte anlegen, sondern die Aufhellung und Intensivierung des eigenen Lebens anstreben.

Die laienphilosophische Kunst der epoché, der Distanznahme, die Kunst der Frage und der kontrollierten Entfremdung ist wohl auch eine Sache des Talents, des angeborenen oder erworbenen Weltverhältnisses, aber vor allem eine des Trainings. Es ist anfangs nicht leicht, die richtigen Fragen zu stellen und das eigene Leben wie ein Ethnologe aus einem anderen Erdteil von außen zu betrachten. Es hilft, wenn man nicht mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Die Fraglichkeit oder Fragwürdigkeit des alltäglichen, ritualisierten, auf reduktiven Gewohnheiten beruhenden Alltagslebens zu entdecken muß gelernt und geübt werden. Vor einigen Jahren hat der Romancier und Essayist Italo Calvino eine literarische Figur geschaffen, den Herrn Palomar, der in kleinen Erzählungen vorführt, wie ein Laienphilosoph unter anderem verfahren könnte. Diese Miniaturen enthalten Modelle des alltäglichen Innehaltens, Stolperns und Staunens, die in philosophische Reflexionen münden. Ob das üppige Angebot einer Käsetheke im Supermarkt, die Tätigkeit des Rasenmähens, die Ausstattung eines Metzgerladens, eine barbusige Schöne am Strand oder die Pracht des Sternenhimmels – es gibt nichts, was ihn nicht zu kleinen oder größeren philosophischen Betrachtungen anregt. Sie führen nicht immer zu befriedigenden oder beruhigenden Ergebnissen, doch jedesmal gewinnt der gelebte Alltag plötzlich an Tiefe, die sich bis ins Abgründige weiten kann. Bücher benötigt der Alltagsphilosoph dazu in der Regel eher weniger. Zuweilen verwendet er kleine Übungen, um sich ein philosophisches Problem näherzubringen. Praktikabel und nachahmenswert ist etwa Palomars Projekt, »das Tot-Sein zu üben«, bei dem er zu experimentellen Zwecken einen Tag lang durch die Welt läuft, als wäre es schon nicht mehr die seine.

Alltagshilosophische Übungen haben gegenüber ausgedehntem Bücher-Studium den Vorteil, daß sie nur wenig Zeit kosten und sich trotzdem mit ihnen deutlich bewußtseinserweiternde Effekte erzielen lassen. Paradoxerweise – in der Philosophie ist man von Paradoxien der Selbstbezüglichkeit umzingelt – muß ich gerade in diesem Zusammenhang ein Buch erwähnen. Unlängst hat der französische Autor Roger-Pol Droit nämlich ein ganzes Buch mit philosophischen Alltagsübungen zusammengestellt, amüsanten und erhellenden Spielen, die die philosophische Nachdenklichkeit beflügeln. Seinen Ausgangspunkt benennt er so:

»«…es gibt banale Situationen, alltägliche Gesten, die wir ständig ausführen und die jederzeit zu Anlässen des Staunens werden können – jenes Staunens, das der Ursprung der Philosophie ist. Wenn wir akzeptieren, daß Philosophie keine reine Theorie ist, wenn wir zugestehen, dass sie aus eigentümlichen Haltungen gegenüber der Existenz erwächst, aus ungwöhnlichen Abenteuern, die Philosophen mit Gefühlen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Überzeugungen, Fähigkeiten und Ideen erleben, dann ist es durchaus möglich, sich Erfahrungen vorzustellen, die zu solchen Schlüsselreizen werden können.« (R-P. Droit, »Fünf Minuten Ewigkeit – 101 philosophische Alltagsexperimente«, Hamburg, 2002, S. 13)

Manche dieser Übungen wirken auf den ersten Blick skurril und würden, ließe man sich bei ihrer Ausführung beobachten, vielleicht leise Zweifel am Geisteszustand des Übenden aufkommen. Im Wesentlichen handelt es sich um Gedankenspiele, aber sie sind – im Gegensatz zu rein intellektualistischen Problematisierungen – oft mit experimentellen, körperlichen oder sprachlichen Aktivitäten verbunden, erfordern manchmal ein paar Requisiten oder sogar die Hilfe von Mitbürgern. Die Übungen heißen beispielsweise »Ein Wort seines Sinnes entleeren«, »Sich einen kurzen Schmerz zufügen«; »Warten, ohne etwas zu tun«, »Sich ein Haar ausreißen«. »Bis Tausend zählen«, »Jemand anlächeln«, »Auf die Knie gehen, um das Telefonbuch herzubeten«, »Leute in Gedanken umbringen«, »Ein blaues Nahrungsmittel suchen« oder gar »Beim Pinkeln trinken«.

Letztere Übung möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Roger-Pol Droit schreibt:

»Wie alle Welt pinkeln Sie. Zu anderen Zeiten trinken Sie. Aber Sie wissen nicht, was für ein Gefühl es ist, beides zur gleichen Zeit zu tun. …Also füllen Sie ganz einfach ein großes Glas Wasser. Sobald Sie anfangen, zu urinieren, fangen Sie an, zu trinken. Wenn irgendmöglich, sollten Sie kontinuierlich trinken, in einem Zug, ohne abzusetzen. Sogleich werden sich ungewohnte Empfindungen bei Ihnen einstellen. Das Wasser, das aus Ihrem Geschlechtsteil fließt, knüpft fast gleichzeitig eine Beziehung zu demjenigen an, das durch ihren Mund eintritt. Daher entsteht in Ihren Gedanken – und vor allem in Ihrem Empfinden – das Bild von einer Organisation Ihres Körpers, die Sie nicht für möglich gehalten hätten. […] In wenigen Sekunden erfinden Sie sich einen phantastischen, wunderbar einfachen Körper und erleben ihn doch ganz konkret und unzweifelhaft. […] Das Wasser fließt vertikal durch Sie hindurch, Sie werden von der frischen Flüssigkeit durchströmt, von innen gewaschen, auf eine unvergleichliche Weise gereinigt. Ihr Organismus scheint innen offen zu sein, mühelos kreist das Wasser zwischen Innen und Außen, wie ein kosmischer Strom…«(R-P. Droit, a.a.O., S. 49f)

Ich habe eigens die derbste, gewissermaßen kynischste und leibbezogenste Übung ausgewählt, um den von mir imaginierten Ingrimm der Universitätsphilosophie auf den Stand glühendster Zornesröte zu treiben. Was hat denn dieser vulgäre Unfug, höre ich den Professionellen sagen, bitte schön mit unserer jahrtausendealten, hochehrwürdigen und hoch-wissenschaftlichen Disziplin zu tun! Nun ja, zugegeben, die Kluft erscheint groß. Aber ist das Experiment wirklich so unernst, wie es scheint? Es bietet eine schräge Versuchsanordnung, in der eine ungewöhnliche Eigenleib-Erfahrung in Bezug zu einem philosophischen Problem gebracht wird. Der Schritt vom scheinbaren Unfug zu den Abgründen der Ontologie ist kurz. Wo beginnt unser Leib, wo endet er? Was trennt das Innen vom Außen? Ist das Sein nur »da draußen« oder gehöre ich in meine Leiblichkeit eingelassen selbst zum umfassenden, kosmischen, auf sich selbst aufmerkenden Sein? Was ist der Mensch? Sein, durch das Sein hindurchströmt! Ein Knoten im Sein, ein Aufmerken, ein Blick, den das Sein sich selber zuwirft. Ist das etwa nicht erstaunlich und sonderbar? »Es muß doch einen Weg um das Gehirn herumgeben«, träumte einmal der Lyriker Peter Rühmkorff. Bitte, hier ist er. Für einen Moment gerät die bewußtseinsabgewandte Seite des Seins, das Sein, das wir in unserem Rücken sind, in den Blick. Wir erfahren und begreifen uns als Sein-im-Selbstbezug und die Grenzen zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt verschwimmen. Und das sollte keine philosophische Erfahrung sein?

Unser alltägliches Leben ist oft ziemlich flach, banal, ereignisarm. Wir haben das unbestreitbare, wenn auch nicht völlig unfragwürdige Glück, seit Jahrzehnten in relativem Wohlstand, weitgehender Sicherheit und vollkommenem Frieden zu leben. Natürlich sorgen Krankheiten, Sorgen, Unglücksfälle für Abwechslung, doch wenn wir unser Leben vergleichen mit dem der Menschen in Jerusalem, in Kabul, Mexiko-Stadt oder Kalkutta, so müssen wir zugeben: es ist leicht, stellt wenig Ansprüche, lebt sich mit niedriger Drehzahl. Ein Effekt des Unspektulären, Unbedrohten und Sicheren besteht in dem Verlust der Wachsamkeit überscharfer, angespannter Sinne, dem Verlust des Kontaktes mit der tragischen Kostbarkeit des Moments. Vielleicht könnte angesichts dessen das philosophische Leben als eine Art fortgesetzte Impfung begriffen werden, als Serie kleiner Aufstörungen, die aus der Lethargie, der Achtlosigkeit und Indolenz herausreißen, welche unser gewöhnliches Leben so arm machen. Um bei Fragen der Ontologie zu bleiben: Man könnte dies an unserem Verhältnis zu den Dingen exemplarisch illustrieren.

Unsere postindustrielle, automatisierte und medial möblierte Lebenswelt hat uns dem Mysterium der Dinge, dem Ereignis ihres Seins, entfremdet. Martin Heidegger hat das schreckliche, deprimierende Wort von der »Zuhandenheit« der Dinge ersonnen. Unbeachtet, aus der Wahrnehmung gefallen wie schmerzfreie Organe sind sie uns als Verlängerung, Verstärkung und Optimierung angewachsen, zuhanden, um übersehen, um gedankenlos benutzt und verbraucht zu werden. Sofern kein Stromausfall uns auf die Sprünge hilft, nehmen wir das Dasein der Dinge nicht mehr war. Ihre industriell gefertige, serielle, auf schnellen Konsum und rasche Substituierung konzipierte Existenz ist geheimnislos geworden, entsinnlicht und, wenn man so sagen darf, entspiritualisiert. Das Schwinden des Sinns der Dinge könnte als Paradigma dienen für die habituelle Erfahrungsarmut, die uns in einer technologisch gesättigten Moderne befällt, in der Attrappen, fakes und Simulacren zur Substitution des Realen dienen.

Nicht ohne Melancholie und Verlustgefühl stehen wir in der wundervollen Stilleben-Ausstellung der flämischen Meister des 17. Jahrhunderts. Dort können wir ermessen, wie unendlich fremd uns in so kurzer historischer Zeit die Welt der Dinge geworden ist, die ein geheimnisvolles Band der Korrespondenzen, -Analogien und Korrelationen durchzog, durch das die Dinge – Obst, Blumen, Gläser, Gefäße, -Schreibutensilien, Spielzeug, Musikinstrumente, Schmuck- und Schaustücke aller Art – mit spiritueller Bedeutung aufgeladen, gewichtig und erhaben in ihrer Lesbarkeit, ihrem Verweisungsreichtum, ihren Anspielungsmustern, einen tiefen, irgendwie metaphysischen Glanz ausstrahlten. Als die Welt der Dinge noch ein Buch war, in dem die Größe, die Liebe und die Macht Gottes ablesbar blieb wie in einer zweiten Offenbarung, -fristeten die Objekte, so scheint es, noch nicht die öde Existenz in der verächtlichen Zuhandenheit. Noch nicht der Vernutzung in besinnungslosem, sich überschlagenden Konsum anheimgegeben, besaßen sie Würde und sogar ein gewisses Maß an unnahbarer Erhabenheit: sie überdauerten uns noch, waren vor uns da und waren bestimmt, nach uns weiterleben. Ihre Betrachtung konnte Formen spiritueller Meditation und Erbaulichkeit annehmen; bereitwillig erzählten sie noch von den Jahreszeiten, der Arbeit, den Strapazen und der bewundernswerten Kunstfertigkeit, die sie ins Sein gebracht hatten. Heutige Dinge erzählen allenfalls davon, daß die Wüste wächst. Es sei denn, ein anderer, befremdeter, ekstatischer Blick brächte an den Dingen in Gang, was Aleida Assmann die wilde Semiose nannte.

»Dem schizophrenen, ästhetischen, erotischen Blick ist die Welt unselbstverständlich. Indem er der Dinge in ihrer Materialität ansichtig wird, dringt er durch die Anonymität des Gewöhnlichen und die ewige Wiederkehr des Alltäglichen hindurch. […] Wilde Semiose ist das weite Feld, das sich zwischen den Polen des Pathologischen und des Kreativen erstreckt. […] Die Atomzertrümmerung der Wirklichkeit in kleinste Elemente macht sie als Raster zwischenmenschlicher Orientierung und Kommunikation unbrauchbar, dafür gewinnt sie aber in gesteigerten Augenblicken eine überwältigende Gegenwart.« (Aleida Assmann, »Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose«, in: Gumbrecht, Pfeiffer (Hg): »Materialität der Kommunikation«, Frankfurt/M. 21995)

Assmann entdeckt in dem Verlust der hergebrachten vielfarbigen Semantik der Dinge, die sie in vorindustriellen, prämodernen Verhältnissen besaßen, sogar eine Chance, daß in der Wüste die Möglichkeit einer Gegensprache der Dinge aufbricht:

»Mit der industriellen Revolution, die die traditionellen lebensweltlichen Verhältnisse tiefgreifend veränderte, ging ein Erfahrungsverlust einher, für den die Frühromantiker die empfindlichsten Seismographen sind. Sie bezeugen jene Entfremdung, die sich – auf die kürzeste Formel gebracht – im Übergang von den Dingen zu den Waren einstellt. Als Waren sind die Dinge ‘gesellschaftliche Hieroglyphen’ (Marx), erstarrte Elemente einer rein ökonomischen Logik. Die Sprache der Dinge wurde unter dem Druck solcher Erfahrungen wieder hörbar. Sie gewannen in ihrer schieren Materialität eine neue Bedeutungshaftigkeit, die fortan einer strikt individuellen Lektüre vorbehalten war. So avancierte die Sprache der Dinge zu einer Gegensprache, die die die herrschenden Diskursregeln in allen Punkten unterläuft.«

»So konnte, wer immer ein Motiv hatte, den menschlichen Ordnungen zu entkommen, hellhörig werden für die Sprache der Dinge. Man lauscht ihnen einen Sinn ab, der in der modernen Welt verloren zu gehen drohte. Paradox bleibt diese Sprache nicht zuletzt deshalb, weil innerweltliche Ordnung einerseits und transzendeter Sinn andererseits ebenso unverzichtbar wie unvereinbar zu sein scheinen.« (a.a.O.)

Die philosophische Meditation über die »Unselbstverständlichkeit« eines beliebigen Gegenstandes gewährt erstaunliche Erträge. Von der phänomenologischen Beschreibung über die semiologische Analse bis zur ontologischen Reflexion entspannt sich ein Bogen des Philosophierens, das noch nicht einmal ein Buch benötigt. Trotzdem sind Bücher natürlich nützlich, ja unverzichtbar. Die philosophische, mit der Semiologie, der Geschichte, der Soziologie, der Ethnologie oder der Linguistik verbündete Reflexion sperrt sich nicht dagegen, wie ein Instrument der Forschung auf die Phänomene des alltäglichen Lebens gerichtet zu werden. Die Philosophie des 20. Jahrhunderts, die sich gegen dessen Ende immer häufiger und unbekümmerter interdiszplinär verbündete und ohne engstirnige Diskursordnungen und Disziplingrenzen hybride Diskurse produzierte, die von dem Spektrum der Wissenschaften profitierten, hat eine unermeßlich reichhaltige Literatur hervorgebracht. Sie ist selten für Laien geschrieben, gewiß, und verweigert sich oft genug einer alltagserhellenden Ambition. Doch nichts hindert daran, sie – und sei es gegen den Willen ihrer Autoren »mißbräuchlich« – zu benutzen. Schließlich hat sich die Philosophie selbst oft genug durch -kreative Mißverständnisse weiterentwickelt.

Was für die Gegenwart gilt, betrifft erst recht den Schatz der philosophischen Tradition. Der französische Philosophiehistoriker Pierre Hadot hat es unternommen, in einem ebenso anregenden wie gelehrten Buch die antiken Weisheitslehren philosophischer Lebensführung zu sichten, die Anweisungen, Übungen und Praktiken der Stoiker, Epikureer und anderer Schulen zusammenzustellen und für die Gegenwart aufzubereiten. Es zeigt sich, daß vieles, was in den philosophischen Lebensschulen des Altertums gelehrt wurde, seine Frische und inspirierende Kraft nicht verloren hat. Die philosophische Selbsterziehung, die asketische Übungen, Verhaltensstrategien und meditative Alltagsspiritualität kombiniert, kann in vielen Zügen auch den modernen Menschen zu einer besseren Ausbalanzierung seiner Hoffnungen und Ängste, Begierden und Über-Ich-Ansprüche, energischer Aktivität und passiver, kontemplativer Ruhe verhelfen. Die stoischen Übungen und die angstfreien, menschenfreundlichen Haltungen der Epikureer geben uns einen Eindruck davon, wieviel Kraft, innere Ruhe und Harmonie in der Mit-Welt eine philosophische Lebensführung gewähren kann. Laienphilosophie muß sich ihrer eigenen Traditionen vergewissern, sie ausschöpfen und nach Möglichkeit beleben, um das einmal Gewußte unverlierbar zu machen. Daß sie damit auch ihre eigene Position als legitimer Diskurs eigener Art stärkt, ist ein erfreulicher Nebeneffekt. Pierre Hadot, der am Collège de France lehrte, kommt zu einem eindeutigen Schluß:

»Müßte man nicht dringend den antiken Begriff des »Philosophen« wiederentdecken, jenes Philosophen, der lebt und wählt, und ohne den der Begriff der Philosophie keinen Sinn hätte? Könnte man den Philosophen nicht…als einen Menschen definieren, der ein philosophisches Leben führt, statt als einen Professor oder einen Schriftsteller, der einen philosophischen Diskurs entwickelt? Sollte man nicht den üblichen Gebrauch des Wortes ‘Philosoph’, den man üblicherweise nur aauf den Theoretiker anwendet, revidieren, um ihn auch denjenigen zuzugestehen, der Philosophie praktiziert, ebenso wie der Christ das Christentum praktizieren kann, ohne…Theologe zu sein? Muß man darauf warten, selbst ein philosophisches System konstruiert zu haben, um philosophisch leben zu können?« (P. Hadot, »Wege zur Weisheit«, a.a.O., S. 315)

Wenn wir das Neue, Originelle und Experimentelle der Laienphilosophie realisieren wollen, dann brauchen wir in der Perspektive auch eine andere, bessere Didaktik, für die allenfalls Vorarbeiten und Skizzen bestehen. Zwar existiert ein universitärer Forschungszweig namens Philosophiedidaktik, doch der befaßt sich mit der Optimierung des akademischen Studiums oder der Ethik-Vermittlung an Schulen. In der Erwachsenenbildung haben wir bisher – mangels zündender Einfälle, nicht aus Vergnügen – häufig genug die Methoden der Hochschuldidaktik kopiert, schlecht und recht über Texten gebrütet, Texte erschlossen und Texte diskutiert. Ich glaube, es ist an der Zeit, einmal neue Wege auszuprobieren, Experimente zu wagen und kreativ zu werden. Im kommenden Semester werden wir einen Kurs zur Laien- oder Alltagsphilosophie anbieten, der auf den hier geäußerten Überlegungen basiert. Wir werden philosophische Alltagsexperimente heranziehen – keine Sorge, nicht das von mir zitierte Trink-Experiment! –, -Körpererfahrungen und Wahrnehmungsübungen entwickeln, die uns zu einer Phänomenologie unserer Leiblichkeit führen, Dinge beobachten und befragen, uns mit Alltagsmythen befassen und kommunikative Versuche anstellen. Das Einerlei der Sinnförderung im Textgebirge wird durch Exkursionen in die Welt der bildenden Kunst, der Musik und des Films unterbrochen. Die in der Malerei aufbewahrte und aktive philosophische Wahrheit aufzuspüren und herauszuarbeiten, was sie zu denken geben, könnte das Vermögen zu bildlichem, nicht-linearem Denken trainieren.

Wir sollten an unserer philosophischen Ausdrucksfähigkeit arbeiten, Interviews führen, spontan kleine Essays zu schreiben lernen und die Führung von Diskussionen üben. Man kann der allmählichen Verfertigung des Gedankens beim Reden oder beim Schreiben nachgehen und lernen, das Schreiben zur Klärung eigener Gedanken zu benutzen. Es wäre möglich, Landkarten unserer intellektuellen Topographie zu zeichnen, probeweise unsere Identitäten zu wechseln, im Alltag kleinen detektivischen Forschungsaufträgen nachzugehen. Und wenn wir mit Texten arbeiten, dann vielleicht auf andere Weise, als in der üblichen, etwas trockenen Seminar-Form. Es kommt ja bei der Befähigung zur Laienphilosophie nicht so sehr darauf an, Wissen aufzuhäufen, sondern zu lernen, wie man Bücher befragt, wie man auffindet, was man wissen möchte, wie man Enttäuschungen vermeidet und Irrwege abkürzt. Nach der Art Montaignes Bücher wie Freunde zu behandeln, mit denen man sich unterredet, will gelernt werden, vielleicht durch inszenierte Totengespräche, durch gezielte Befragung oder andere Formen der Interaktion. Nützlich wird es sein, sich eines kleinen Apparates an Hilfsmitteln zu vergewissern, die uns den Umgang mit philosophischen Werken erleichtern. Mit Texten, das war Gegenstand meines vorangegangenen Vortrages, kann man mehr tun, als sie bloß hermeneutisch zu bebrüten. Man kann sie auseinandernehmen, kollagieren, parodieren, weiterschreiben oder überschreiben, man kann sie kreuzen, hybridisieren, aufeinander hetzen, sie rezitieren, singen oder in Graphiken umsetzen.

Eigentlich existieren eine Menge Verfahren, die sich speziell innerhalb der Laienphilosophie entwickeln und erproben ließen. Mag sich das eine oder andere als undurchführbar erweisen oder an der Schüchternheit, Zurückhaltung oder Unsicherheit der Teilnehmer scheitern, so glaube ich doch, daß vieles übrig bleibt, was sich vom Experiment zum gesicherten Bestand entwickeln könnte. Allmählich jedenfalls sollte die laienphilosophische Didaktik sich darauf ausrichten, weniger akademisches Halbwissen zu vermitteln, als Befähigungen und Fertigkeiten zu trainieren, das eigene Leben zu einem philosophischen zu machen, Kurs auf ein Leben als Selbstdenker à la Montaigne aufzunehmen.

Philosophie als »radikale Fraglichkeit« ist ein Unruheherd, sie durchbricht die Normalität, stellt das Selbstverständliche zur Disposition und setzt Gewißheiten aufs Spiel. Sie öffnet die Sinne und weckt das Bewußtsein für die Schönheit und Abgründigkeit des In-der-Welt-Seins. Der Begriff der »Lebensbedeutsamkeit« verweist nicht nur darauf, daß eine solche Philosophie Bedeutung für das gelebte Leben hat, sondern bedeutet zugleich, daß sie dem Leben Bedeutsamkeit verleiht. Es gehört zum Erfahrungsbestand, daß die Hinwendung zur Philosophie das unwiderrufliche Ende aller Langeweile herbeiführt. Die radikale Fraglichkeit des Gewöhnlichen aufzuspüren bedeutet weder Destruktion noch Verklärung, es erschließt die Mannigfaltigkeit, die Differenz, die Pluriversalität des Daseins. In gewisser Hinsicht ist sie daher mehr als eine Aktivität und eine Einstellung, sie ist ein Lebensstil, der seine eigenen ästhetischen und ethischen Implikationen besitzt. Wenn die Laienphilosophie sich entfaltet, etabliert und konsolidiert, könnte sie zu einem wichtigen, unverzichtbaren Supplement der akademischen werden, ein Reservoir ihrer Unruhe, ihres Erstaunens und ihrer sokratischen Fragelust. Wenn sie einmal erstarkt ist und Mittel findet, ihre Stimme zu erheben, dann, wer weiß, gehen vielleicht von ihr auch Impulse aus, die den Isolations- und Entfremdungsprozeß der Universitätsphilosophie stoppen. Möglichweise, aber dies führt an die Grenze der Utopie, wird dann auch Schluß sein mit der Geringschätzung der Laienphilosophie. Sie bewahrt vielleicht das lebendige Herz und das Gewissen der Philosophie, als ihre vitale lebensweltliche Basis, aus der alle Motive des Philosophierens überhaupt entstammen.

Mit dem Dank für Ihre Aufmerksamkeit verbinde ich die herzliche Einladung, Ihre eigenen Ideen und Vorschläge einzubringen, an der Erprobung der experimentellen Alltagsphilosophie im nächsten Semester teilzunehmen oder andere Angebote philosophischer Bildung an unserer Volkshochschule  zu nutzen.